Flüchtlingsdrama in Patras "Wir haben gehört, dass Deutschland gut zu uns ist"

Die griechische Hafenstadt Patras ist Schauplatz einer humanitären Tragödie: Flüchtlinge aus Afghanistan und dem Irak versuchen, von dort nach Deutschland zu gelangen. Sie gehen auf der Flucht waghalsige Risiken ein - und landen meist im Müll der Slums.
Von Peter Hell

Patras - Es ist das langgezogene Heulen der Schiffssirene, die Jaweds Augen kurz aufblitzen lassen. "Gleich geht es los", flüstert er. Neben ihm drängen sich etwa 30 Männer. Eine weitere Gruppe steht etwa fünfzig Meter weiter entfernt, daneben die nächste. Ihre wenigen Habseligkeiten haben die Männer in Plastiktüten oder kleinen Sporttaschen verstaut. Die meisten kommen aus Afghanistan, einige aus dem Irak. Jetzt stehen sie hinter einem drei Meter hohen Maschendrahtzaun und schauen sehnsüchtig auf die andere Seite.

Die andere Seite – das ist das streng bewachte Hafengelände von Patras. Täglich fahren von der Stadt im Westen Griechenlands die Autofähren Richtung Italien. Bis nach Bari sind es knapp sechzehn Stunden. In 20 Minuten wird die "Olympia" ablegen. Das ist der Zeitpunkt, auf den Jawed und die anderen gewartet haben. Nach monatelanger Flucht und Entbehrungen ist Patras ihre vorerst letzte Station vor dem ersehnten Ziel.

"Es ist Gottes Wille, wenn wir es schaffen"

"Wenn wir es bis unter die Laster geschafft haben, können wir nur noch zu Allah beten, dass man uns nicht findet", sagt Jawed. "Es ist Gottes Wille, wenn wir es schaffen. Ich möchte nach Deutschland. Bei uns ist Krieg. Wir haben gehört, dass Deutschland gut zu uns ist."

Jawed ist 22, das älteste von sechs Geschwistern. Jawed ist Paschtune und stammt aus einem kleinen Dorf südlich von Kabul. Er strahlt, wenn er von seinen Träumen spricht. Von einem Leben in Deutschland. Er hat Verwandte dort. Die Stadt, wo sie wohnen, kennt er nicht. Er hat nur eine Telefonnummer. Er zeigt den Zettel – es ist eine Handynummer.

Zusammen mit seinem Freund Hawid war er im Oktober vergangenen Jahres von Kabul aus Richtung Westen aufgebrochen. Über die Flucht sprechen sie nur zögerlich. Zu groß ist die Furcht vor den Menschenhändlern. "Wir sind in einem Lkw mit vielen anderen Afghanen hierhergekommen" sagt Hawid. "Erst haben sie uns über die iranische Grenze gebracht. Wir wussten nie, wo wir gerade sind. Es war die ganze Zeit dunkel." Ziel der Menschenhändler ist die Westküste der Türkei. Von dort geht es mit kleinen Booten Richtung Griechenland und somit auf EU-Boden. "Wie viel Geld mussten sie bezahlen?" "5000 Dollar", antwortet Hawid. "Pro Person. Wir haben das Geld gespart und einiges von Verwandten bekommen", ergänzt er schnell.

"Wir sollen verschwinden. Aber wo sollen wir denn hin?"

Seit drei Monaten versuchen die beiden Männer, auf eines der Schiffe zu gelangen. Jeden Tag stehen sie mit den anderen am Zaun. Sie haben aufgehört zu zählen, wie oft sie von der Hafenpolizei erwischt worden sind, nachdem sie sich auf die Achsen der Lkw gelegt haben. Sie wurden lediglich registriert und wieder weggeschickt. In der Tasche trägt Jawed ein zusammengeknülltes Papier. Es ist ein Abschiebebescheid mit einmonatiger Aufenthaltserlaubnis, ausgestellt von der Ausländerbehörde von Patras. Das Dokument ist seit zwei Monaten abgelaufen. "Sie haben uns gesagt, wir sollen verschwinden, aber wo sollen wir denn hin? Wir haben nichts zu essen, viele sind krank. Hier will ich auf keinen Fall bleiben."

Mittlerweile, so schätzen die Behörden, sollen sich mehr als 1000 Flüchtlinge in Patras aufhalten. In den Neunzigern, da waren es die Kurden, die zu Tausenden versuchten, von hier aus Italien, also EU-Territorium, zu erreichen.

Seit etwa sechs Jahren sind es die Afghanen, die in Patras einfallen. Die Hafenstadt, so hat es sich bis in die entlegendsten Bergdörfer am Hindukusch herumgesprochen, ist das Tor nach Italien, Frankreich oder Deutschland. Schafft man es bis nach Griechenland, ist man auf EU-Boden. Doch die wenigsten Flüchtlinge wollen in Griechenland bleiben. Die Hilfsorganisation "Pro Asyl" beziffert die Ablehnung von Asylanträgen afghanischer Flüchtlinge im Jahr 2007 mit knapp eintausend.

Die Gruppe am Zaun wird unruhiger. Ein silberner Geländewagen der Hafenpolizei patrouilliert mit Blaulicht. Als er außer Sichtweite ist, geht alles ganz schnell: Eins, zwei, drei - schließlich sind es zehn Männer, die über den Maschendrahtzaun klettern. Jawed und Hawid sind auch dabei. Sie rennen über den Pier. Dort stehen die Lkw, aufgereiht, einer neben dem anderen. Die Trucks warten auf ihre Einschiffung. Es ist die beste Zeit. Die meisten Fahrer kaufen jetzt ihre Tickets oder trinken einen Kaffee. Es sind nur Sekunden, die die Flüchtlinge haben, um sich in oder unter einem Lkw zu verstecken.

Flucht im Hohlraum neben der Lkw-Achse

Fast sieht es aus wie ein Spiel. Sie ducken sich, weichen geschickt den Blicken unliebsamer Zuschauer aus. Sie suchen nach offenen Stellen an den Planen. Dann prescht der Geländewagen heran. Geschickt kreist der Fahrer die Flüchtlinge ein, manövriert sie zurück zum Zaun. Ein bizarres, unwürdiges Schauspiel, das sich täglich mehrmals wiederholt.

Takis Vrionis steht mit verschränkten Armen vor seiner Fähre. Er ist Manager der Reederei. Die "Endeavor Lines" fahren mehrmals täglich Italien an und retour. Mitleid mit den Menschen hat er nicht: "Die machen uns nur Ärger", schimpft er. "Wenn wir die an Bord erwischen, übergeben wir sie in Italien der Polizei, die schicken sie dann sofort zurück nach Griechenland".

Auf eine mögliche Unterstützung der Lkw-Fahrer können die Menschen ebenfalls nicht hoffen. "Wenn sie dich mit einem Flüchtling erwischen", sagt Karl-Heinz Hoffmann, "dann gibt es richtig Ärger. Die sperren dich in den Knast und legen dir den Wagen still." Hoffmann transportiert regelmäßig Orangen von Griechenland nach Norddeutschland. Während er die beliebtesten Verstecke der Flüchtlinge an seinem Truck zeigt, bemerkt er einen blinden Passagier. Ein Afghane hatte sich in einen kleinen Hohlraum neben den Achsen gequetscht. Hoffmann hätte ihn beinahe nicht bemerkt.

"Ey Mister, finish with the journey here", ruft der Trucker durch das kleine Loch. Sekunden später klettert der junge Mann unter dem Laster hervor und verschwindet. Menschliche Dramen mit Vorführeffekt.

"Wir versuchen es weiter. Wir wollen weg aus Griechenland"

Am Stadtrandrand von Patras, entlang der Hauptstrasse und keine hundert Meter vom Strand entfernt, zeigt sich das Ausmaß der Flüchtlingstragödie. Zwischen Ferienwohnungen und neugebauten Luxusappartements erstreckt sich über die Größe eines halben Fußballfeldes ein Lager. In den selbstgebauten Hütten aus Plastik und Pappe vegetieren die Menschen in ihrem eigenen Müll. Es gibt weder Toiletten noch Wasser noch Strom. Es riecht nach Exkrementen und mit schlechtem Wasser verdünntem Milchpulver. Es riecht nach Kapitulation.

Für die meisten Flüchtlinge endet spätestens hier die Hoffnung auf ein besseres Leben. "Wir bekommen kaum Hilfe von der Regierung, die meisten von uns sind krank", klagt Hamid. In Kabul hat er als Lehrer gearbeitet, ist seit sechs Monaten im Lager. Jetzt versucht er, die Öffentlichkeit in Patras wachzurütteln. Viel zu selten besucht das Rote Kreuz das Lager, ab und zu verteilt die Kirche etwas Essen. "Medizinische Hilfe erhalten wir so gut wie gar nicht", sagt Hamid. Zwischen fünfhundert bis siebenhundert Flüchtlinge leben im "Patras-Camp".

Die genaue Zahl kennt keiner. Jeden Morgen machen sich die Menschen auf den Weg Richtung Hafen, der keine fünfzehn Minuten Fußweg entfernt ist. "Fast alle kommen abends wieder zurück", sagt Hamid. Kaum einer schafft es, nach Italien oder Deutschland zu kommen, aber wir versuchen es weiter. Wir wollen nur weg aus Griechenland."

Am frühen Abend stehen Jawed und seine Kameraden am Pier von Patras. Gerade hat das letzte Schiff den Hafen Richtung Bari verlassen. "Einmal bin ich mit diesem Schiff gefahren, aber sie haben mich wieder zurückgeschickt." Will er es wieder versuchen? "Natürlich, selbst wenn ich noch ein Jahr hier bleiben muss, werde ich es versuchen. Wir schaffen es nach Deutschland, da bin ich mir hundertprozentig sicher." Knapp eintausendvierhundert Kilometer sind es von Patras bis zur deutschen Grenze. Die letzte Etappe in eine ungewisse Zukunft.

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