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Mädchen aus dem Irak: Lernen mit Muttersprachlern

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Flüchtlingsheim am Grenzweg Wie Divan gut lernt

Divan floh mit ihrer Familie aus dem Irak nach Deutschland. Seitdem die Achtjährige eine normale Schule besucht, lernt sie viel schneller als zuvor. Fast wäre dem Mädchen diese Chance verwehrt geblieben.

Für Divan Rashid beginnt der Tag mit Musik. "Sie ist immer schon so früh da", sagt ihre Klassenlehrerin Britta Lichtenberg, "und dann nutzen wir die Zeit und üben Blockflöte. Damit sie aufholt." Im Irak, wo Divan aufgewachsen ist, hat sie kein Instrument gespielt. Aber hier an der Rudolf-Steiner-Schule in Hamburg-Farmsen ist Flötenspiel Teil des Unterrichtskonzepts.

Nicht nur beim Flötespielen muss Divan nachholen: Vor ihrer Flucht aus dem irakischen Kurdistan hatte sie nur eine einzige Woche lang eine Schule besucht. Ein Jahr nach ihrer Ankunft in Deutschland ging sie in der Erstaufnahme in Hamburg-Rahlstedt in die Schule, gemeinsam mit den anderen Flüchtlingskindern zwischen sechs und zehn Jahren.

Weil schon ihr älterer Bruder von der Waldorfschule aufgenommen worden war, wechselte die Achtjährige nach dem Umzug in eine Folgeunterkunft dorthin. Seit ein paar Wochen geht sie nun in die 2a. Divans Lernwille sei eisern, sagt Lehrerin Lichtenberg. Das Mädchen setze "ihren ganzen Ehrgeiz daran, so gut wie die anderen zu werden".

"Tristesse und Warten statt Integration und Lernen prägen den Alltag vieler Kinder"

Aber auch die Rudolf Steiner Schule setzt viel Ehrgeiz daran, das Divan und ihr Bruder, der die siebte Klasse besucht, das Pensum schaffen. Und dass sie so schnell wie möglich ihr Deutsch verbessern: Zweimal pro Woche gibt Britta Lichtenbergs Mann den beiden Deutschunterricht, zweimal pro Woche kommt ein Lehrer, der auf Deutsch als Fremdsprache spezialisiert ist.

In der EA Rahlstedt hatte Divan nur mit Kindern gespielt, die das persische Farsi oder Arabisch sprachen oder so bruchstückhaftes Deutsch wie sie selbst; und auch in der Folgeunterkunft gibt es kein Kind, das mit Deutsch als erster Sprache aufgewachsen ist. Das Ergebnis: Divan spricht viele Sprachen ein bisschen und keine perfekt. Selbst ihre Muttersprache, das kurdische Sorani, hat sie inzwischen teilweise verlernt.

Genau dies kritisierte kürzlich auch eine Unicef-Studie mit dem Titel "Kindheit im Wartestand": "Tristesse und Warten statt Integration und Lernen prägen den Alltag vieler Kinder", lautet das Fazit von Christian Schneider, Co-Autor der Studie. Dass die Familien lange in Flüchtlingsunterkünften lebten, stelle auch für die Eltern ein Integrationshindernis dar. Kinder hätten die Fähigkeit, besonders schnell Deutsch zu lernen und die Integration der gesamten Familie zu fördern.

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Mädchen aus dem Irak: Lernen mit Muttersprachlern

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Divan hat Glück gehabt, dass zwei Schüler die 2a verließen und so Plätze frei wurden. "Ich habe überlegt, was ich der Klasse zumuten kann", sagt Lichtenberg. Sie beschloss, es mit Divan zu probieren. Ein Jahr zuvor sei ein Däne in die Klasse gekommen, der am ersten Tag kein Wort Deutsch gesprochen habe, "und jetzt hört man kaum noch, dass das nicht seine Muttersprache ist". Solche Riesenschritte werde auch Divan machen. "Divan ist eine Sympathieträgerin, ihr fliegen die Herzen zu."

Ein paar Tage später ist Elternabend. Lichtenberg erzählt von der neuen Schülerin. Sie berichtet, warum Familie Rashid aus dem Irak geflohen ist und dass sie dringend eine Wohnung braucht. Der Vater einer anderen Schülerin arbeitet bei einer großen Hausverwaltung und bietet an, Familie Rashid bei der Wohnungssuche zu helfen.

Zur Autorin
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Marianne Wellershoff ist Autorin beim SPIEGEL und beschäftigt sich mit Themen aus Kultur und Gesellschaft. In diesem Blog berichtet sie aus dem Mikrokosmos einer Erstaufnahme. Sie geht der Frage nach, wie Flüchtlinge in Deutschland leben und wie das Land mit ihnen lebt.

Auch die Mutter einer anderen Mitschülerin will helfen: Sie ruft bei einem Autowaschservice an. Dort kann Divans Vater Awat, der im Irak eine Autowaschanlage besaß, ein unbezahltes Praktikum machen.

An einem Dienstagmorgen geht Awat Rashid ins Hamburger Einwohnerzentralamt. Da der Asylantrag abgelehnt wurde, haben er und seine Familie nur eine sechsmonatige Aufenthaltsgestattung, die jetzt verlängert werden muss. Außerdem möchte der Besitzer der Autowaschanlage eine Bescheinigung, dass Awat Rashid ein unbezahltes Praktikum machen darf - der Geschäftsmann befürchtet, jemand könne ihn beschuldigen, einen Schwarzarbeiter zu beschäftigen.

Vielleicht wird aus dem Praktikum ein richtiger Job

Am Eingang des Einwohnerzentralamts steht der erste Sicherheitsmann am Drehkreuz und fragt nach dem Anliegen. Dahinter steht der zweite und verteilt Nummern. Awat Rashid stellt sich in einer Schlange an. Irgendwann wird seine Nummer aufgerufen, er geht zu einem weißen Tresen, gibt die Aufenthaltsgestattungen ab und erhält eine neue Nummer. Er wartet er eine Stunde lang im nächsten Zimmer, bis er die um sechs Monate verlängerten Papiere zurückerhält.

Eine Bestätigung, dass er ein unbezahltes Praktikum machen darf, bekommt er nicht. Weil sich das ja von selbst verstehe, erfährt er. Dann drückt der Mitarbeiter am Schalter ihm noch ein Formular in die Hand, das Awat Rashid dem Arbeitgeber geben soll: Es ist der Antrag auf eine Arbeitserlaubnis, die er beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge einreichen muss. Falls aus dem Praktikum ein richtiger Job wird.

Awat Rashid besucht noch eine Behörde. Er geht zum Bezirksamt in Hamburg-Wandsbek, um dort sogenannte Analogleistungen für Asylbewerber zu beantragen, die dem Regelsatz der Grundsicherung entsprechen. Nach 15 Monaten in Deutschland haben Asylbewerber einen Anspruch darauf, auch wenn ihr Antrag - wie bei den Rashids - abgelehnt wurde und sie auf ihren Verwaltungsgerichtsprozess warten.

Menschen vom Grenzweg

Außerdem möchte er einen Dringlichkeitsschein für eine Wohnung beantragen und die Zusage des Amts erbitten, die Mietkosten zu übernehmen. Denn es gibt Neuigkeiten: Vielleicht könnte es bei einer Genossenschaft klappen mit einer geförderten Wohnung. Dann hätte die Familie Rashid großes Glück, denn Wohnraum ist knapp in Hamburg.

Zwei Tage später beschließt der Deutsche Bundestag (gegen die Stimmen der Grünen, der Linken und zweier SPD-Abgeordneter) eine Gesetzesänderung zur "besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht". Darin heißt es, dass Länder in verschiedenen Fällen Ausländer verpflichten können, in der Aufnahmeeinrichtung zu wohnen - bis endgültig entschieden ist, ob sie abgeschoben werden oder bleiben dürfen.

Für die Rashids hätte das vielleicht bedeutet: Sie würden immer noch in zwei Containerzimmern in der EA Rahlstedt leben. Divan ginge weiterhin in der Erstaufnahme zur Schule, in einer Klasse, in der dauernd die Mitschüler wechseln. Und in der kein Schüler mit Deutsch als Muttersprache aufgewachsen ist.

Gegen den Gesetzentwurf hatte Unicef im Interesse der Kinder protestiert. Vergeblich.

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