Flüchtlingsheim am Grenzweg Wahids Traum vom Studium

Wahid Yousefi Ghazni

Wahid Yousefi Ghazni

Foto: SPIEGEL ONLINE

Endlich Gewissheit: Wahid Yousefi Ghazni hat für die kommenden drei Jahre ein Aufenthaltsrecht in Deutschland. Nun will er so schnell wie möglich seine Mutter in Iran finanziell unterstützen.

Flüchtlingsheim am Grenzweg
Foto: Arnold Morascher

Die Erstaufnahme Rahlstedt befindet sich am Rand eines Hamburger Gewerbegebiets. Eines Tages sollen hier 560 Flüchtlinge wohnen. Wie sieht ihr tägliches Leben aus? Wie funktioniert eine Erstaufnahme? Was verändert sich für die Nachbarn? Dieser Blog beschreibt Woche für Woche den Alltag einer großen Unterkunft und lässt Bewohner, Mitarbeiter, Anwohner zu Wort kommen.

Er hat nicht schlafen können in diesen Nächten, wieder nicht. Nachdem er in Deutschland angekommen war, lag er nachts wach und dachte an seine Flucht zurück. An den Weg durch das Gebirge und seine Angst, dass die iranische Grenzpolizei ihn entdecken und auf ihn schießen könnte. Wenn er schlief, war es auch nicht besser: "10.000 Albträume" habe er damals gehabt, über Monate sei das gegangen.

Nun aber war der Grund für die Schlaflosigkeit ein Briefumschlag: Wahid Yousefi Ghazni hatte vom Infopoint der Erstaufnahme (EA) in Hamburg-Rahlstedt erfahren, dass das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) seinen Bescheid abgeschickt hatte. Wahid ist Afghane. Die Chance, als Flüchtling anerkannt zu werden oder eine andere Schutzform zu bekommen, das wusste er, liegt für Afghanen zur Zeit statistisch bei knapp 50 Prozent.

Fifty-fifty, kein Grund also für übermäßigen Optimismus. Zwar werden bisher die wenigsten abgelehnten afghanischen Asylbewerber in ihre Heimat zurückgeschickt, aber die Bundesregierung will wieder verstärkt dorthin abschieben. Manche Bundesländer, etwa Schleswig-Holstein und Bremen, haben die Abschiebung nach Afghanistan allerdings wegen der Sicherheitslage vorübergehend ausgesetzt. Dabei wurden laut Uno im Jahr 2016 mehr als 11.400 Menschen durch Kampfhandlungen getötet oder verletzt - eine grausige Höchstmarke seit Beginn der Erhebung vor sieben Jahren.

Als Wahid den Brief in der Hand hielt, traute er sich nicht, ihn alleine zu öffnen. Mena Rytlewski, die Leiterin des Sozialmanagements in der Flüchtlingsunterkunft, saß deshalb neben ihm, als er den Din-A4-Umschlag aufriss. Die Flüchtlingseigenschaft werde zuerkannt, las Wahid, er habe für die nächsten drei Jahre ein Aufenthaltsrecht.

Endlich Gewissheit. 16 Monate nachdem er nach Deutschland geflohen ist. Endlich Aussicht auf Zukunft statt Angst vor der Vergangenheit. Für Afghanen, die 2016 Asyl beantragt haben, dauerten die Asylverfahren durchschnittlich 8,7 Monate.

Ein Leben auf der Flucht

Wahid ist im Grunde schon sein Leben lang auf der Flucht. Seine Familie floh vor der unsicheren Situation in Afghanistan nach Iran. Dort aber sind Afghanen Menschen zweiter Klasse. Schätzungsweise drei Millionen Afghanen leben in Iran, die Hälfte davon illegal. Wahids Eltern bekamen immer wieder Aufenthaltsgenehmigungen für ein Jahr. "Dafür mussten sie bezahlen", sagt Wahid. Schließlich schaffte er es sogar, ein Psychologie-Studium in Iran zu beginnen. In den Sommerferien sei er dann angesprochen worden: Er dürfe nur weiterstudieren, wenn er Afghanen anwerbe, für Iran in Syrien zu kämpfen. Wahid weigerte sich. Er habe Reisepass, Zeugnisse und Studentenausweis abgeben müssen und sei von der Uni geworfen worden.

Also reiste er nach Kabul, um dort zu studieren. Er habe zwei Wochen lang jeden Morgen ab sechs Uhr in einer Schlange angestanden, um seinen Ausweis zu bekommen, sagt Wahid. Afghanistan funktioniere einfach nicht. Und sicher habe er sich dort auch nicht gefühlt. Wahid gehört der schiitischen Minderheit der Hazara an, die mongolische Wurzeln hat, was den Gesichtszügen oft anzusehen ist. Die Taliban und auch der IS haben in den vergangenen Jahren gezielt Hazara ermordet.

Wahid kehrte nach Iran zurück und floh schließlich nach Deutschland. Im Sommer kann er eine Ausbildung zum Rettungssanitäter beginnen. Eigentlich würde er lieber sein Psychologie-Studium fortsetzen, aber er ist noch unschlüssig. Denn um als Psychologe zu arbeiten, sagt Wahid, müsse er perfekt Deutsch sprechen, und das sei noch ein langer Weg. Und er müsse seine allein lebende Mutter in Iran so schnell wie möglich finanziell unterstützen. "Für viele Flüchtlinge ist es sehr belastend, die Probleme der Familie zu hören, die in der Heimat zurückgeblieben ist", sagt Rytlewski.

Mohammed Nabi Ali Mohammed und seine Frau Fazilat

Mohammed Nabi Ali Mohammed und seine Frau Fazilat

Foto: SPIEGEL ONLINE

In der EA Rahlstedt leben auch die afghanischen Eheleute Fazilat und Mohammed Nabi Ali Mohammed. Auch sie haben Post bekommen, aber nicht vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, sondern vom Verwaltungsgericht: Eine Richterin hat entschieden, dass die schwangere Fazilat für sechs Monate nicht nach Bulgarien zurückgeschickt werden darf, wo ihr Fingerabdruck registriert worden war. Das bedeutet, laut Dublin-Verordnung, dass sie ihren Asylantrag vermutlich in Deutschland stellen kann. Und der Vater des Kindes auch. Dass sie im Frühsommer 2016 im Wald eine Fehlgeburt hatte, als die bulgarische Polizei die Flüchtlinge mit Hunden in Schach hielt, hat sie bis heute nicht verkraftet.

Fazilat und Mohammed Nabi waren Hals über Kopf aus Afghanistan geflohen, durch Iran, die Türkei, lange nachdem die Balkanroute geschlossen worden war. Er habe gutes Geld in der Provinz Logar verdient und ein schönes Haus gehabt, erzählt Mohammed Nabi, er habe mit Autoteilen gehandelt. Er habe Afghanistan gar nicht verlassen wollen, berichtet er, er sei auch im Land geblieben, nachdem seine erste Frau bei einem Bombenanschlag im Krankenhaus ums Leben gekommen sei.

Zur Autorin
Foto: Torsten Kollmer

Marianne Wellershoff ist Autorin beim SPIEGEL und beschäftigt sich mit Themen aus Kultur und Gesellschaft. In diesem Blog berichtet sie aus dem Mikrokosmos einer Erstaufnahme. Sie geht der Frage nach, wie Flüchtlinge in Deutschland leben und wie das Land mit ihnen lebt.

Doch dann habe der Mann seiner Schwester Karriere gemacht - bei den Taliban in Logar. Und je weiter er aufstieg, desto mehr habe der Schwager die Schwester drangsaliert - so sehr, dass sie von Suizid gesprochen habe. Mohammed Nabi verriet seinen Schwager an die "Regierung", wie er es formuliert. Der Mann sei verhaftet, vielleicht an die Amerikaner ausgeliefert worden, sagt Mohammed Nabi. Seine Schwester tauchte ihm zufolge unter, er selbst und Fazilat seien von einer Hochzeitsfeier nicht mehr nach Hause zurückgekehrt, weil sie telefonisch gewarnt worden seien, die Taliban hätten vor der Tür gestanden.

Die Wartezeit, bis der Bamf-Bescheid kommt, verbringen Mohammed Nabi und Fazilat mit Deutschlernen. Heft um Heft füllt er mit seiner zierlichen Handschrift, schreibt Zahlen von eins bis hundert in Worten oder Sätze wie "Mein Kind ist heute krank und kann nicht in die Schule kommen". Und er beobachtet die Deutschen und wundert sich, dass selbst Männer, die die Flüchtlingsunterkunft in Rahlstedt führen, auch mal zum Putzlappen oder zum Besen greifen. Das wäre für ihn in Afghanistan undenkbar gewesen.

Menschen vom Grenzweg

"Die Deutschen denken, wir würden ihre Regeln nicht akzeptieren"

Auch Wahid hat in den Monaten des Wartens über Deutschland nachgedacht. Warum hier der Bus pünktlich kommt, warum bei der Krankenkasse tatsächlich jemand ans Telefon geht. Seine Antwort: Weil in Deutschland Religion und Staat getrennt seien. "Alle Muslime müssten ein Jahr in Deutschland verbringen", sagt Wahid, "sie würden viel Neues lernen und beginnen, ganz anders zu denken."

Und er wünscht sich, dass auch die Deutschen sich über die Flüchtlinge in ihrem Land informieren. Zum Beispiel, warum die so laut telefonierten. "Wir können nur über WhatsApp mit unseren Familien sprechen", sagt Wahid, "und da muss man laut sprechen. Die Deutschen denken aber, wir würden ihre Regeln nicht respektieren."

Mena Rytlewski nickt. "Aus meiner Arbeit in der Inklusion von Behinderten habe ich gelernt: Auch die Gesellschaft muss sich manchmal ändern."

Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren