
Mena Rytlewski in ihrem Büro
Foto: SPIEGEL ONLINEWenn es Ärger gibt, ist das oft ein Fall für Mena Rytlewski: Sie ist für den sozialen Frieden im Flüchtlingsheim am Grenzweg verantwortlich - und der dürfte bald auf die Probe gestellt werden.

Die Erstaufnahme Rahlstedt befindet sich am Rand eines Hamburger Gewerbegebiets. Eines Tages sollen hier 560 Flüchtlinge wohnen. Wie sieht ihr tägliches Leben aus? Wie funktioniert eine Erstaufnahme? Was verändert sich für die Nachbarn? Dieser Blog beschreibt Woche für Woche den Alltag einer großen Unterkunft und lässt Bewohner, Mitarbeiter, Anwohner zu Wort kommen.
Die Duschen sind mal wieder schuld. Monatelang haben sie nicht richtig funktioniert: Das Wasser spritzte herum, der Abfluss war an der falschen Stelle montiert. Das Problem war so groß, dass sogar ein Aufnahmestopp für die Erstaufnahme (EA) Rahlstedt angeordnet wurde.
Inzwischen sind die Duschköpfe ausgetauscht, der Belegungsstopp kann jederzeit aufgehoben werden. Und das ist auch ein Problem. Für Mena Rytlewski. Sie leitet das Sozialmanagement in der EA Rahlstedt , ihr Job ist es, unter anderem, für sozialen Frieden in der Einrichtung zu sorgen. Das könnte schwierig werden, denn wenn statt derzeit 200 dann 560 Bewohner in dem Containerdorf leben, müssen die Bewohner des Männertrakts zusammenrücken. Im Moment teilen sich zwei Leute ein Zimmer, dann werden es drei sein.
Nun denkt Rytlewski darüber nach, wann der beste Zeitpunkt ist, um die Bewohner zusammenziehen zu lassen: Schon jetzt, damit es keinen Aufruhr gibt, wenn die Neuen kommen? Aber was ist, wenn das noch zwei Monate dauert und sie unnötig früh mehr Enge schaffen würde? Also doch lieber so lange wie möglich die entspanntere Wohnsituation beibehalten?

Defekter Cafeteria-Boden
Foto: SPIEGEL ONLINEZu Beginn war nur Krise
Krisensituationen zu erkennen und in den Griff zu bekommen, gehört zu den Aufgaben des Sozialmanagements in der Flüchtlingsunterkunft. Zu Beginn bestand Rytlewskis Job eigentlich nur aus Krisensituationen, denn als sie Ende 2015 - nach ihrem Studium der Sozialökonomie und sechs Jahren in der Behindertenarbeit - bei den Maltesern anfing, arbeitete sie in einer eiligst zur Flüchtlingsunterkunft umfunktionierten Bundeswehr-Turnhalle in Hamburg-Osdorf. "Unser Büro war in der Halle, wir hatten zwei Laptops, aber keinen Telefonempfang", erzählt Rytlewski, "und worin unser Job genau bestand, mussten wir erstmal selbst herausfinden."
Es wurden auch Fehler gemacht, erzählt Rytlewski, zum Beispiel, als die Bewohner gelbe Armbänder mit Namen und Nummer tragen mussten. "Da kam Unmut auf", sagt Rytlewski. "Wir sind keine Tiere", bekam sie zu hören. Die Armbänder wurden durch Pappkarten ersetzt, das kam deutlich besser an.
In Erinnerung geblieben sind ihr vor allem die Kinder, viele waren gerade erst nach Osdorf gekommen. "Sie wirkten verängstigt, weinten, starrten vor sich hin." Ein siebenjähriges Mädchen schrie vor Zahnschmerzen, das werde sie nie vergessen. Olav Stolze, der Leiter der Einrichtung, fuhr sofort mit dem Kind zum Zahnarzt. Während Rytlewski dies erzählt, ist Stolzes Stellvertreterin Tanja Bee-Weinelt mit dem Auto unterwegs zu eben jenem Mädchen. Es hat sich zwei Tage zuvor bei einem Sturz in der EA Rahlstedt einen Nagel ins Knie gerammt: Entzündung, Krankenhaus, OP.
"Die Menschen haben geglaubt, in Deutschland ginge alles viel schneller"
In der Unterkunft in Rahlstedt, in die Flüchtlinge und Malteser-Mitarbeiter im Oktober 2016 umgezogen sind, hat Rytlewski komfortablere Bedingungen: ein großes Büro mit drei Schreibtischen, zwei Besprechungszimmer. Sie liegen über der Wäscherei. Wenn unten die Maschinen schleudern, vibrieren oben die Stühle und Tische. Container eben.
Elf Kolleginnen und Kollegen hat Rytlewski in ihrem Team, fünf davon in Teilzeit. Die Themen haben sich verändert seit damals, im Herbst 2015. "Heute geht es ums Ankommen, Integrieren, Deutsch lernen", sagt sie. Und auch die Probleme sind andere. Der Heimatverlust quäle viele, die Sorgen um die Familie, die zurückgeblieben ist, das unvertraute, trostlose deutsche Essen. Resigniert seien manche, weil sie in der Erstaufnahme feststeckten. Das gefühlt endlose Warten auf den Bescheid, ob man als Flüchtling anerkannt wird oder nicht, das Warten auf einen Platz in einer Folgeunterkunft. "Behördenresignation", nennt Rytlewski das: "Die Menschen haben nicht geglaubt, in Deutschland eine Villa zu bekommen. Aber sie haben geglaubt, es ginge alles viel schneller."

Mena Rytlewski
Foto: SPIEGEL ONLINE"Elementar für die Unterkunft"
"Viele Flüchtlinge finden sich in ihrem neuen Umfeld nicht zurecht, alles ist neu und anders. Die Arbeit des Sozialmanagements ist deswegen elementar für die Unterkunft", sagt Olav Stolze, der auch die EA Rahlstedt leitet. "Unsere Mitarbeiter helfen beispielsweise Schwangeren, das richtige Krankenhaus und eine Hebamme zu finden, sie organisieren die Vor- und Nachsorge, sie halten Kontakt nach der Geburt und unterstützen beim Stellen von Anträgen bei den Behörden." Das Wichtigste: "Nichts Menschliches ist dem Sozialmanagement fremd."
Vor einigen Wochen war eine andere Hamburger Erstaufnahme geschlossen worden. Die restlichen Bewohner wurden nach Rahlstedt verlegt; einige von ihnen brachen schreiend zusammen, als sie sahen, dass sie wieder in einer Erstaufnahme gelandet waren und nicht in einer Folgeunterkunft, wie sie erwartet hatten. Rytlewski erzählt, dass ein Mann daraufhin tagelang sein Gepäck am Eingang stehen ließ. Sie deutet den Protest als Versuch, wieder Macht über das eigene Leben zu gewinnen. Ein Fall für das Sozialmanagement: beruhigen, reden und vor allem erklären, erklären, erklären.
"Psychotherapie scheitert am Dolmetscher"
Trotzreaktionen oder aggressive, gewalttätige Ausbrüche seien eher die Ausnahmen, sagt Rytlewski. Depressionen seien viel häufiger. Manchmal helfe nur ein Termin bei einer psychiatrischen Ambulanz, aber da gibt es meist nur Pillen. Rytlewski sagt: "Psychotherapie scheitert am Dolmetscher", die Krankenkasse bezahle nur den Therapeuten, nicht den Übersetzer.

Marianne Wellershoff ist Autorin beim SPIEGEL und beschäftigt sich mit Themen aus Kultur und Gesellschaft. In diesem Blog berichtet sie aus dem Mikrokosmos einer Erstaufnahme. Sie geht der Frage nach, wie Flüchtlinge in Deutschland leben und wie das Land mit ihnen lebt.
Und dann ist da der kleinteilige Alltag: Wieder haben nur zwei Kinder vor dem Unterricht gefrühstückt, wie eine Lehrerin dem Sozialmanagement berichtet. Ein Aushang muss geschrieben werden, es stehe zum Frühstück Früchtetee und warmer Haferbrei für die Kinder bereit, das gebe ihnen Energie für den Schultag. Rytlewski bespricht mit ihren Kolleginnen, in welche Sprachen der Text übersetzt werden soll. Später erfährt sie, warum die Kinder den Brei nicht essen: Er ist gezuckert, und das Frühstück in ihrer Heimat ist herzhaft.
Die Kolleginnen erzählen, dass in der Cafeteria der Fußboden an mehreren Stellen eingebrochen sei. Rytlewski geht rüber, um sich das Ärgernis selbst anzusehen. Besorgt betrachtet sie die provisorisch aufgeschraubten Spanplatten, daneben senkt sich der Boden bedenklich unter den Füßen eines Wachmanns. Zu Rytlewskis Glück ist das ein Fall fürs Unterkunftsmanagement.
Menschen vom Grenzweg
2015, als sie den Job angefangen hat, gingen ihr die Fluchtgeschichten nachts vor dem Einschlafen nicht aus dem Kopf. Unterkunftsleiter Stolze sagt: "Die Arbeit im Sozialmanagement kann sehr emotional und belastend sein. Deswegen bieten wir unseren Mitarbeitern Supervision an und geben ihnen Zeit für Gespräche über Einzelfälle."
Heute kann sie nachts auch an das denken, was gut gelaufen ist. Der Mann, der sein Gepäck am Eingang deponierte, lebt immer noch in der EA Rahlstedt. "Jetzt grüßt er mich überschwänglich", sagt Rytlewski. "Wenn die Menschen sich freuen, gibt mir das etwas zurück."
Sozialmanagement in der EA Rahlstedt