Hochwasserschäden in Solingen »Ich dachte wirklich, das war’s mit unserer Zukunft«

Im Keller der Gaststätte: »Ich hoffe, dass wir nächste Woche wieder aufmachen können«
Foto: Armin Himmelrath / DER SPIEGELDieser Artikel gehört zum Angebot von SPIEGEL+. Sie können ihn auch ohne Abonnement lesen, weil er Ihnen geschenkt wurde.
Am Anfang, sagt Ulf Lucassen, am Anfang hätten sie noch Witze gemacht. Das war am Mittwochabend gegen 20 Uhr, als er und seine Frau Katrin auf die Wupper schauten, die 20 Meter hinter ihrem Haus durch das idyllische Tal fließt. Die Familie bewirtschaftet ein altbergisches Gasthaus in Solingen, in einer kleinen Ortschaft mit vielleicht 50 oder 60 Einwohnerinnen und Einwohnern. Seit 1929 ist »Haus Rüdenstein« im Familienbesitz.
Als in der Wupper die ersten Wohnwagen vorbeitrieben, da habe sie noch Videos mit dem Handy aufgenommen, erzählt Katrin Lucassen. Die Fahrzeuge schaukelten in der Strömung, offenbar weggeschwemmt vom Campingplatz ein paar Kilometer flussaufwärts. Aber selbst da, sagt ihr Mann, habe er noch gedacht: »Viel schlimmer wird es wohl nicht mehr.«
Ulf Lucassen hatte sich geirrt.
Um Mitternacht kam die Anordnung, das Dorf zu räumen. »Ich habe mir unsere vier Kinder geschnappt und zwei weitere aus der Nachbarschaft«, erzählt Katrin Lucassen. In der gerade wegen der Ferienzeit leer stehenden Wohnung ihres Stiefbruders kam sie mit der kleinen Notkita unter, während die anderen Erwachsenen im Dorf händeringend versuchten, Gartentische und Stühle zu sichern. Bei Lucassens sind das ein paar Hundert Möbelstücke, die normalerweise für die Gäste auf den Wiesen am Ufer stehen. Hektisch wurde alles zusammengeräumt, Ulf Lucassen schnappte sich noch den Computer, die Kasse und ein paar technische Geräte.
Wie aber sollten sie die Treppen und die Tür zu den Gasträumen sichern? Wenn der Parkettboden nass werden würde, dann wäre das der Super-GAU, sagt Katrin Lucassen: »Ich dachte wirklich, das war’s mit unserer Zukunft.« Sandsäcke? Gab es nicht, und auch keine Chance, die noch irgendwo her zu besorgen. »Da hatte mein Mann die Idee, unsere Vorräte aus dem Trockenlager zu nehmen.« Paniermehl, Salz, Reis – alles, was in Plastiksäcken wasserdicht verschweißt war, schleppten die Helferinnen und Helfer nach draußen vor die Eingangstür. Zusätzlich füllten sie noch in aller Eile den Split vom Parkplatz in Müllsäcke. Da wussten sie noch nicht, dass das Wasser zwei Zentimeter unterhalb der obersten Stufe zum Stillstand kommen würde.

Katrin Lucassen: Mit Lebensmittelsäcken den Eingang zur Gastwirtschaft gesichert
Foto: Armin Himmelrath / DER SPIEGELAm Samstag, zwei Tage nach der Flut, als Katrin Lucassen von der Katastrophennacht erzählt, scheint die Sonne. Die Spuren der Verwüstung sind zwar noch überall zu sehen, im Keller liegen Scherben und unversehrt gebliebene Weinflaschen wild durcheinander. Das Kletterschiff auf dem Spielplatz ist nur noch ein Wrack, der Fußweg hinter dem Haus fast einen halben Meter tief ausgewaschen, Leitungen liegen frei. Kontinuierlich blubbernd befördern mehrere Pumpen das Wasser aus dem Haus.
Lesen Sie hier aktuellen Nachrichten zur Flutkatastrophe.
»Es sieht schlimm aus, ja«, sagt Ulf Lucassen. »Aber das ist doch nichts gegen das, was die Menschen in der Eifel erleben mussten.« Die Bilder und Nachrichten von der Ahr hätten ihn schockiert. Die Sachschäden im »Haus Rüdenstein« dagegen könne man beheben, die Lebensmittelvorräte wurden gerettet, der Parkettboden hat nichts abbekommen, im Dorf gab es keine Verletzten. Und dann sagt der Gastwirt einen Satz, der überhaupt nicht als Witz gemeint ist: »Ich hoffe, dass wir nächste Woche wieder aufmachen können.« In der Nacht von Mittwoch auf Donnerstag, da habe er noch befürchtet, nach Corona und einer solchen Überschwemmung die Existenzgrundlage zu verlieren. Aber jetzt, zwei Tage danach? Da blickt die Familie schon wieder nach vorne.
Enorme Hilfsbereitschaft
Auch deshalb, weil nicht nur in der kleinen Ortschaft, sondern darüber hinaus die Hilfsbereitschaft enorm ist. Rund 20 Helferinnen und Helfer sind an diesem Samstag zu Lucassens gekommen – einer hat gleich einen Radlader mitgebracht, ein anderer ein Notstromaggregat. Feuerwehr, die Solinger Stadtverwaltung, Handwerker, Versorgungsbetriebe, vor allem aber Freunde und Nachbarn: Ulf Lucassen ist voller Lob für alle, mit denen er in den vergangenen Tagen zu tun hatte. Das sei einfach beeindruckend, wie sehr sich alle bemühen, sagt er: »Große Diskussionen zu führen oder jetzt wegen angeblicher Fehler nachzutreten, das bringt doch nichts.«
Auch Katrin Lucassen schaut lieber nach vorne. Den Humor, sagt sie, will sie sich nicht nehmen lassen, nur so lasse sich ein solcher Schlag verkraften. Sie erzählt von dem Bauern ein paar Ortschaften weiter, dem einige Hühner ertrunken seien. Der habe gesagt: »Die Klugen sind nach oben geflattert, die Dummen sind halt sitzen geblieben« – eine raue Art, mit den Verlusten umzugehen.
Und dann muss Katrin Lucassen ein bisschen lachen: »So sind sie eben hier, die Leute im Bergischen Land.«