Freispruch in Mannheim Kachelmanns treueste Bloggerin

Jörg Kachelmanns Freispruch ist ihr Seelenheil: Rita-Eva Neeser hat im Internet für die Unschuld des Moderators gekämpft - voller Enthusiasmus und Akribie, aber auch mit Tränen und Verzweiflung. Eine Begegnung.
Jörg Kachelmann auf dem Weg ins Gericht: "In zwei Jahren ist er da, wo er aufgehört hat"

Jörg Kachelmann auf dem Weg ins Gericht: "In zwei Jahren ist er da, wo er aufgehört hat"

Foto: Uli Deck/ dpa

Hätte sie bloß andere Schuhe angezogen. Nicht die halbhohen, braunen Peeptoes, aus denen vorne je ein rot lackierter Zeh lugt. Rita-Eva Neeser ist aus dem Schweizer Kanton Solothurn angereist und hat sich am Dienstag in aller Frühe die Beine in den Bauch gestanden, um im Landgericht Mannheim das Urteil gegen Jörg Kachelmann zu hören - und einen Schlussstrich zu ziehen unter eine Million und 194.000 Wörter, die sie zu diesem Thema im Internet verfasst hat.

Rita-Eva Neeser hatte einen Blog zur Ehrenrettung des Moderators geschrieben. Sein Freispruch bereitet ihr Genugtuung. Mit ihm endet eine Zeit voller Enthusiasmus und Engagement, aber auch voller Tränen, Wut und Verzweiflung. Sie gehörte zu denen, die noch im Gerichtssaal reflexartig in frenetischen Jubel ausbrachen und applaudierten.

Einen Tag nach der Urteilsverkündung tun Rita-Eva Neeser zwar noch immer die Füße weh, aber sie hat immerhin 15 Stunden am Stück geschlafen. So lange hatte sie nicht mehr geschlummert, seit Kachelmann am Frankfurter Flughafen festgenommen wurde, weil er seine Freundin vergewaltigt haben soll.

Sie las die Neuigkeit damals als Breaking-News bei n-tv. Denn Rita-Eva Neeser ist ein Nachrichtenjunkie. Manchmal zappt die Frau, die in der Schweiz lebt, an einem Abend durch fünf verschiedene Nachrichtensender, französische wie englische, und staunt, wie unterschiedlich doch die Berichterstattung zu ein- und demselben Thema sein kann.

Jörg Kachelmann kannte sie aus dem deutschen Fernsehen. Sie fand witzig, wie er das Wetter präsentierte. "Aber wer braucht in der Schweiz das deutsche Wetter?", fragt Rita-Eva Neeser und zieht die Augenbrauen hoch. Also war der nette Herr Kachelmann für sie, was er für viele Zuschauer war: ein Mann aus dem Fernsehen, mehr nicht.

Er hätte "sechs Hände gebraucht"

Doch als der 52-Jährige festgenommen wurde und die Hatz auf ihn begann, fühlte Rita-Eva Neeser sich ihm verbunden. Ihr Unverständnis tat sie auf Facebook kund. "Ich bin eben eine Gerechtigkeitsfanatikerin", sagt sie über sich selbst. Anfangs habe es eine angeregte Diskussion über den Fall gegeben. "Doch auf Facebook tummeln sich auch viele primitive Leute, die in der Anonymität des Internets dummes Zeug abladen."

Rita-Eva Neeser startete einen Blog und schrieb fast jeden Tag: Über die vermeintliche Ungerechtigkeit, die dem Moderator widerfuhr, die Befangenheit der Richter, die Verlogenheit des mutmaßlichen Opfers.

Für niemanden war der Fall so klar wie für die 64-Jährige: Kachelmann war das Opfer, seine ehemalige Geliebte die hasserfüllte Lügnerin, die sich für den jahrelangen Betrug rächen wollte. Allein für die "Technik", nach der Kachelmann seine Ex-Freundin vergewaltigt haben soll, hätte er "sechs Hände gebraucht", ist Rita-Eva Neeser überzeugt.

Bevor sie ihren Ehemann, einen Schweizer, kennenlernte, arbeitete sie als Beamtin bei einer Krankenkasse in Wien. Dieser Erfahrung sei die Akribie geschuldet, mit der sie ihren Blog angelegt hat: Da ist von Koryphäen die Rede, aber auch von Hyänen. Alice Schwarzer bekommt ihr Fett weg, die Staatsanwaltschaft Mannheim sowieso.

Ihre Überzeugung ist so unerschütterlich, dass sie auch den Namen der Frau ungeniert offen nannte, die Kachelmann auf die Anklagebank brachte. Aufgrund dieser Angabe fuhren Menschen nach Schwetzingen, um sich die Dachwohnung des mutmaßlichen Opfers von außen anzuschauen.

"Ich war nicht die erste, die den Namen veröffentlichte", sagt Rita-Eva Neeser fast trotzig. Ihre haselnussbraunen Augen hat sie hinter einer Sonnenbrille mit Gläsern so groß wie zwei Untertassen versteckt, um den Hals eine Perlenkette, die Haare grau meliert. Bislang hätten ihren Blog etwa 897.000 User besucht, sie haben rund 26.000 Kommentare hinterlassen. Neeser wertet das als Zustimmung.

"Ich bin keine Stalkerin und ich erwarte keinen Dank"

Doch sie weiß auch um ihre Feinde. Sie hat mit ihrem Einsatz viele vergrätzt, Drohungen und Beschimpfungen erreichen sie fast täglich. Das meiste prallt an ihr ab. Nur als einer mal schrieb, sie habe ihren Mann mit Arsen vergiftet, habe ihr das zugesetzt: "Diese Leute kennen weder meinen verstorbenen Mann noch mich - was nehmen die sich raus?"

Geärgert hat sie auch, als einer behauptete, sie habe mit ihrer Butterbrotdose im Foyer des Landgerichts gesessen. "Also bitte, als würde ich mit der Butterbrotdose ins Gericht marschieren", sagt die gebürtige Wienerin mit unverwechselbarem Dialekt und löffelt ihr Eis mit einer Extraportion Schlagobers.

Oder wenn sie in der Süddeutschen Zeitung als "grauhaariger, alter Groupie aus der Schweiz" bezeichnet wird, dann wird sie fuchsteufelswild. Denn eins ist ihr wichtig: Sie ist kein Fan von Kachelmann, sie schwärmt nicht für ihn, sie verehrt ihn nicht - sie findet ihn nicht mal attraktiv. Im Gegenteil: "Der muss ordentlich aufpassen, dass er nicht noch mehr auseinandergeht mit seinem Leipziger Allerlei", sagt sie lachend mit Anspielung auf Kachelmanns Ehefrau, eine 24-jährige Studentin aus Leipzig.

"Ich bin keine Stalkerin und ich erwarte keinen Dank", sagt Rita-Eva Neeser - auch weil spätestens seit dem Fall bekannt sei, dass Kachelmann kein dankbarer Mensch sei. "Er ist ein Egozentriker, aber vielleicht muss man das in seiner Welt auch sein." Lediglich sein ausgebufftes System, mehreren Frauen gleichzeitig das Blaue vom Himmel zu erschwindeln, erstaunt sie.

Weniger originell dagegen findet Rita-Eva Neeser den Kosenamen, den Kachelmann seinen Gespielinnen verlieh: Lausemädchen. In der Schweiz nenne fast jeder Mann seine Freundin "Luusmaitli", oder Eltern ihre Töchter. Nur "Müsli", die Verniedlichung von "Maus", sei noch einfallsloser.

"Das war es mir wert"

Dass sämtliche Luusmaitli, die jetzt so entsetzt täten, noch heute an Kachelmanns Rockzipfel hingen, wäre er nicht angezeigt worden - das ist für Rita-Eva Neeser ebenfalls unbestritten.

Als in einem anderen Forum gegen sie und ihren Blog Stimmung gemacht wurde und einer ankündigte: "Beim Plädoyer der Verteidigung mischen wir die Neeser auf!", stornierte sie ihre Reise nach Mannheim. Weniger aus Angst vor der Konfrontation, sondern vielmehr um etwaige Peinlichkeiten zu verhindern.

Sie weiß zu gut, dass man sie leicht für verrückt halten könnte. Selbst ihr Sohn rollt regelmäßig mit den Augen und sagt: "Du spinnst!" Als er sie weinend vor dem Computer sitzen sah, nach einer Verbalattacke, habe er sie ermahnt: "Entweder du hörst zum Heulen auf oder du nimmst den Schmarrn nicht mehr ernst!" Rita-Eva Neeser hat sich für Letzteres entschieden.

Sechs Mal ist sie nach Mannheim gereist, um am Kachelmann-Prozess teilzunehmen. Mehr als zehn Mal saß sie im Zuschauerraum. Die Reisen und die Recherchen haben sie schätzungsweise 2500 Euro gekostet. "Das war es mir wert", sagt Rita-Eva Neeser. Nach dem Freispruch will sie endlich entspannt in den Urlaub fahren, am liebsten nach Barbados.

Und danach ist das nächste Projekt dran. So wie es vor Kachelmann der Skandal um den inzwischen emeritierten Bischof Mixa war, könnte es nun der Wahlkampf in der Schweiz sein. "Wir haben Gesamterneuerungswahlen. Da wird alles neu gewählt: Vom Bürgermeister im kleinsten Kaff bis hin zum Bundesrat. Das wird spannend, da mitzumischen!"

Der Fall Kachelmann habe ihr alles in allem "großen Spaß" bereitet, sagt Rita-Eva Neeser mit dem Brustton der Überzeugung. "Andere stricken oder tun Gutes, indem sie im Altenheim Bedürftigen vorlesen. Ich widme mich einer neuen Sache, wenn sie mir begegnet."

Kachelmann selbst ist sie außer vor Gericht nie begegnet. Das nächste Mal, sagt sie, werde sie ihn wieder auf dem Bildschirm sehen. "Glauben Sie mir: In zwei Jahren ist er da, wo er aufgehört hat." Und Rita-Eva Neeser hat Recht. Glaubt sie zumindest.

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