Gefährdete Kinder Wenn Eltern psychisch krank sind

Ihre Eltern sind unberechenbar: Manchmal ängstlich und selbstzerstörerisch, dann manisch und manipulativ. Rund drei Millionen Kinder müssen täglich mit psychisch Kranken leben - und überleben. Ärzte und Jugendschützer fordern schnelle und frühzeitige Hilfen.

Es fing damit an, dass Papa im Bademantel in den Garten lief und mit der Machete im Sandkasten herumstocherte. Die Waffe war ein Souvenir aus Südamerika, das seltsame Verhalten etwas, was schon lange in ihm schlummerte. "Ab dieser Sekunde wollte keiner mehr mit mir spielen", erinnert sich die heute 15-jährige Lena* an den Moment, in dem sie verstand, dass ihr Vater anders ist als andere.

Ihr 13-jähriger Bruder Luke* hat immer geahnt, dass sein Vater psychisch krank ist: "Als er das erste Mal vom Fahrrad gekippt ist, habe ich es endgültig kapiert", erzählt der aufgeweckte Teenager, der routiniert mit medizinischen Fachtermini jongliert und längst vertraut ist mit der Diagnose "Bipolare affektive Störung", im Volksmund auch manische Depression genannt.

Lauter verrückte Sachen habe der Papa gemacht, sich vor Fremden nackt ausgezogen, den Kindern in der manischen Phase das Essen vom Teller geklaut. Ob sie Angst vor ihrem Vater gehabt hätten? "Nein, niemals", sagt Luke. Im Gegenteil: "Er kam mir in seiner Psychose vor wie eine Witzfigur, er hat immer so schwächlich gewirkt." Nie habe der Vater jemandem etwas zuleide getan. "Wir hatten eher Angst um ihn", betont die Schwester - und formuliert damit das, was Psychologen "Parentifizierung" nennen: Die Kinder fühlen sich für ihre kranken Eltern verantwortlich und übernehmen deren Rolle - häufig auf Kosten der eigenen Bedürfnisse.

Weil psychisch kranke Menschen ebenso häufig Kinder haben wie gesunde, schätzen Experten, dass etwa drei Millionen Kinder im Jahr mit den psychischen Problemen eines Elternteils konfrontiert sind. Rund eine halbe Million Kinder haben Vater oder Mutter mit einer schizophrenen oder depressiven Störung.

"Wenn es losging, hat er immer wie ein Clown gegrinst"

Luke und Lena lernten mit den Jahren, die Anzeichen eines psychotischen Schubs zu erkennen. "Wenn es losging, hat er immer wie ein Clown gegrinst. Manchmal bekam er Schwindelanfälle, dann mussten wir ihn auffangen", sagt Luke. Meistens seien sie in der Nähe des Vaters geblieben, "damit nichts passiert". Dennoch konnten sie nicht verhindern, dass der Vater versuchte, sich umzubringen - immer wieder, mit Tabletten, Alkohol und vorheriger Ansage.

Beim ersten Mal sei es schlimm gewesen, "weil wir uns noch nicht dran gewöhnt hatten", erzählt Luke. Dann aber häuften sich die Selbstmordversuche, der letzte fand ausgerechnet am Geburtstag der Tochter statt. "Ich glaube, er wollte sich gar nicht umbringen, er wollte nur Mitleid", empört sich der Sohn heute. "Wenn einer es so zwanghaft versucht, tut er mir nicht mehr leid."

Perfekt ins Wahnsystem integriert

"Viele Kinder psychisch Kranker schotten sich von der Umwelt ab, haben sehr wenige Sozialkontakte und sind damit für uns ganz schwer erreichbar", sagt Sozialpädagogin Barbara Hellenthal vom Jugendamt Günzburg. Häufig würden die Probleme erst in der Pubertät erkannt, "wenn die Jugendlichen auffällig werden".

Denk- oder Schlafstörungen, Aggressionen, Angstzustände und Selbstverletzungen - die Liste der möglichen Folgen für die Kinder ist lang. Hinzu kommt die Angst, selbst psychisch zu erkranken. Tatsächlich belegen wissenschaftlichen Studien, dass Angehörige psychisch Kranker ein vielfach erhöhtes Erkrankungsrisiko haben. Zu einer vererbten "Vulnerabilität", einer genetischen Anfälligkeit, gesellen sich hier negative psychosoziale Einflüsse: Viele kranke Eltern verlieren ihren Job oder den Partner und können ihre Erzieherrolle nicht erfüllen.

Je jünger das Kind, desto dramatischer ist die Unsicherheit, die aus dem mitunter schwer vorhersehbaren Verhalten der Mutter oder des Vaters hervorgeht. "Mutti sagt, die Zahnpasta ist vergiftet", erklärt ein Junge im Kindergarten und verweigert die tägliche Zahnpflege. So berichtet es Katja Beeck von der Initiative Netz und Boden .

Bei schizophrenen Patienten kommt es vor, dass sie auch Kinder in das eigene Wahnsystem integrieren - wie im Fall einer 32-jährigen Mutter aus dem schleswig-holsteinischen Darry, die ihre fünf Kinder im Alter von drei bis neun Jahren mit einer Plastiktüte erstickte, um sie vor "bösen Mächten" zu beschützen. Ihr Wahnsystem sei "keiner kritischen Betrachtung mehr zugänglich gewesen", erklärte der psychiatrische Gutachter vor dem Kieler Landgericht, das die Frau für schuldunfähig erklärte und in die Psychiatrie einwies.

Wie das Deutsche Ärzteblatt berichtet, sterben in Deutschland jede Woche etwa zwei Kinder unter 15 Jahren an den Folgen von Gewalt, körperlicher Misshandlung und Vernachlässigung. "Ein zentraler Risikofaktor für solche tragischen Ereignisse sind psychische Erkrankungen bei den Eltern", schreiben die Autoren Fritz Mattejat und Helmut Remschmidt.

Dass eine belastete Familiensituation tödlich endet, ist die Ausnahme. Dennoch gibt es Fälle, in denen Erzieher, Betreuer oder Verwandte alarmiert sind: Wenn ein Vater im psychischen Ausnahmezustand zum Baseballschläger greift und in den Kindergarten läuft, "um die Kleinen zu befreien", wie jüngst in Hamburg geschehen. Wenn die Mutter im Wahn das Zimmer ihrer Tochter anzündet und später selbst entsetzt ist über ihren "Ausraster".

"Auch ein psychotischer Mensch braucht seine Kinder"

Viele kranke Eltern versuchen mit aller Kraft, ihre Symptome in den Griff zu bekommen und den Kontakt zu ihren Kindern zu halten. So wie Reinhard Wojke. Der gelernte Bäcker wurde 1975 erstmals wegen einer schizoaffektiven Psychose stationär behandelt. Lange plagte ihn die Furcht, die eigenen Kinder könnten im Laufe ihres Lebens ebenfalls psychische Störungen entwickeln: "Ich hatte immer Angst, dass meinen Söhnen etwas fehlt, wenn ich ausfalle und nicht anwesend bin, und dass sie darüber erkranken", so Wojke.

Lange Zeit blieb der gelernte Bäcker nach dem ersten Psychiatrie-Aufenthalt symptomfrei. Er holte das Abitur nach und ließ sich zum Physiotherapeuten ausbilden. Mit der Trennung von seiner Frau und dem sich anschließenden Rechtsstreit kam es zum ersten Rückfall.

Wie die damals sechs und neun Jahre alten Kinder auf seinen Psychiatrie-Aufenthalt reagiert haben? "Sie waren sehr aufgeregt, haben mich vorsichtig angeguckt und sind dann einfach auf meinen Schoß gekrabbelt", erinnert sich Wojke. "Das kindliche Gemüt ist ein guter Spiegel, es gibt einem Ruhe und Ausgeglichenheit. Wenn man nicht authentisch ist, merken die Kinder das sofort und streiken. Da muss man an sich arbeiten." Für ihn seien die Kinder immer das Wichtigste im Leben gewesen. "Sie waren meine größte Motivation, mich selbst nicht zu verlieren. Schließlich musste ich für sie da sein."

Es sei immens wichtig, den Kontakt zu halten. Schon während der Ehe habe er sich intensiv um die Söhne gekümmert, später versucht, immer für sie da zu sein, auch wenn die finanziellen Probleme sich häuften und er vollen Unterhalt zahlen musste.

Als Wojke 1998 per Zwangsbeschluss erneut in die Psychiatrie eingewiesen wurde, wollte die geschiedene Frau den Kontakt zu den Kindern endgültig unterbinden. Einzig die beherzte und diplomatische Intervention eines Stationsarztes habe ihn davor bewahrt, erzählt der heutige Autor. "Auch ein psychotischer Mensch braucht seine Kinder."

Sein Weg aus der Krankheit sei lang und hürdenreich gewesen, aber es gelte: "Entweder ich ergebe mich der Diagnose oder ich versuche, mein Leben in die Hand zu nehmen."

Frühe Hilfen oder mehr Kontrolle?

Laut und einstimmig ist der Ruf der Kinderschutzexperten nach "frühen Hilfen": "Was wir brauchen, ist ein System, das greift, bevor die Kinder auffällig werden oder selbst psychisch erkranken", sagt Professor Jörg M. Fegert, Chef der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie in Ulm. Etwa 25.000 Kinder werden der Bundesstiftung Kinderzukunftsnetz zufolge jährlich aus der Obhut ihrer Eltern genommen - in vielen Fällen könnte Prävention dafür sorgen, dass das Kind gar nicht erst in den sprichwörtlichen Brunnen fällt.

In knapp der Hälfte aller Bundesländer gibt es bereits Kinderschutzgesetze, welche die ärztlichen Früherkennungsuntersuchung U1 bis U9 zur Pflicht machen. So wird im Saarland inzwischen jedes Kind, das nach wiederholter Aufforderung des Kinderarztes nicht zu einer Vorsorgeuntersuchung erscheint, dem Gesundheitsamt des Kreises gemeldet. Treffen die Mitarbeiter der Behörde bei Hausbesuchen auf besorgniserregende Zustände in den Familien, schalten sie die Jugendämter ein.

Bayern hat gar eine Mitteilungspflicht für Ärzte und Hebammen gegenüber dem Jugendamt eingeführt, falls Anhaltspunkte für Misshandlung, Missbrauch oder Vernachlässigung vorliegen. Damit solle die Rechtsunsicherheit in Sachen ärztlicher Schweigepflicht beseitigt werden, heißt es.

Klinik-Chef Fegert hält nicht viel von solchen Maßnahmen: "Überall, wo es die Meldepflicht für Ärzte oder Jugendämter gab, sind die Meldezahlen zurückgegangen, weil die Angst vor einem juristischen Verfahren groß war." Der Arzt habe einen klar definierten Behandlungsvertrag und könne seine Schweigepflicht nur brechen, wenn er eine unmittelbare Gefahr für Leib und Leben des Kindes erkenne, so der Professor. Zudem habe die Erfahrung gezeigt, "dass sich etwa 90 Prozent aller psychisch kranken Eltern ohnehin freiwillig einverstanden erklären, die Kinder vorübergehend in staatliche Obhut zu geben".

Viel wichtiger sei es, endlich bundesweite Standards zu schaffen, sagt Fegert. So ergab zum Beispiel eine Studie der Universität Ulm, dass knapp 40 Prozent aller stationär aufgenommenen Patienten in der Erwachsenenpsychiatrie noch nicht einmal gefragt wurden, ob sie überhaupt Kinder zu Hause haben und wer sich gegebenenfalls um diese kümmert.

Ein weiteres Problem: Derzeit ist es gängige Praxis, dass die behandelnden ambulanten Ärzte den Behörden sehr schnell die Erziehungsfähigkeit psychisch kranker Eltern bescheinigen - überwiegend aus dem verständlichen Wunsch heraus, die Familien nicht auseinanderreißen zu wollen. "Doch wie soll ich als Arzt über Erziehungsfähigkeit urteilen, wenn ich die Kinder noch nicht einmal gesehen habe?", fragt Fegert. Vom Gericht bestellte Gutachter kämen deshalb häufig zu einem ganz anderen Ergebnis als die Hausärzte, was für Verwirrung bei so manchem Familienrichter sorge. "Hier wie in vielen anderen Bereichen sind komplexe interdisziplinäre Kenntnisse und eine vernünftige Regie gefragt", so Fegert.

Genau wie im Leben des kleinen Luke. Der rät seinen Leidensgenossen: "Bleibt gelassen, ihr könnt nicht viel ausrichten. Ihr seid nicht der Grund für die Krankheit eurer Eltern, also versucht, euch rauszuhalten, so lange es geht."

* Namen von der Redaktion geändert

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