
Polizeigewalt Die Einzelfalle


Festgenommener bei Anti-AfD-Demonstration in Stuttgart (Archivbild von 2016)
Foto: Markus Heine/ NurPhoto/ Getty ImagesVor kurzem wurde die SPD-Vorsitzende Saskia Esken heftig gescholten (und zwar von nahezu allen politischen Parteien, aber auch von Innenministern und von den Polizeigewerkschaften sowieso), weil sie es abgelehnt hat, Rassismus als individuelle Pathologie in der Polizei zu akzeptieren. Damit verstieß sie gegen ein Dogma: Wenn in der Polizei von "Rassismus" und "Polizeigewalt" gesprochen wird, so lassen Zuschreibungen wie "Einzelfälle" und "schwarze Schafe" meist nicht lange auf sich warten. Das ist eine herkömmliche, aber falsche Reaktion. Selbst wenn sich die Einzelfälle bedenklich häufen, wird kein Zusammenhang zur Struktur oder Kultur der Polizei hergestellt, wenn diese Einzelfälle nicht beweisbar zusammenhängen. Und da bietet ein Personalvolumen von etwa 270.000 Polizeibeamt*innen viel Spielraum für Einzelfälle.
Ich habe eine rhetorische Frage an die Einzelfall-Apologeten: Ab welcher Zahl würden Sie denn von einer Vielzahl oder Mehrzahl oder einer Struktur sprechen? Und was würden Sie denn zählen? Rassistische Äußerungen, Symbole, Handlungen? Oder auch überbordende Gewaltanwendung? Oder auch Beleidigungen, rüpelhaftes Benehmen, herrisches Gebaren? Wir kommen da vom Hölzchen aufs Stöckchen und verlieren schnell den Überblick.
Kein Polizist ist immer gut oder immer schlecht
Ich plädiere dafür, nicht weiter von defizitären Einzelpersonen zu sprechen, sondern umfassend Situationen und Systeme zu analysieren, also die Umstände und das organisationskulturelle Umfeld. Denn die immer wieder bemühte These von den (wenigen) Einzelfällen geht ja von der Vorstellung aus, dass da einige wenige, quasi monadenhaft, sich in der Organisation bewegen, ohne Kontakte, ohne Verbindungen zu Kollegen, vor allem ohne Wissen um die Fehler der anderen.
Das Narrativ vom Generalverdacht und die moralische Empörung darüber, dass man ihn äußerst, kann nur insoweit Bestand haben, als man daran festhält, dass Menschen so sind, wie sie sind, quasi von Natur aus gut oder eben nicht. Ergänzt wird dieses Narrativ oft durch die Metapher der (wiederum wenigen) "schwarzen Schafe", denen implizit die (gedacht aber nicht gesagt: vielen) weißen Schafe gegenüberstehen. Dies legt einen immensen Druck auf die "weißen Schafe", denn sie dürfen niemals etwas tun, was den schwarzen Schafen zugeschrieben wird, sonst sind sie auch welche.
Diese Dichotomie bildet jedoch den Alltag der Polizei nicht ab. Es stehen eben nicht wenige, die sich fehlverhalten, den vielen, die sich tadellos verhalten, gegenüber. Vielmehr kann jeder und jede in eine Situation geraten, in der er oder sie gegen die Standards der Polizei verstößt, und zwar auf sehr unterschiedliche Weise. Jedem, der Polizeiarbeit praktisch erlebt hat, ist schon etwas passiert, wofür er oder sie sich schämt und froh ist, dass es entweder nicht bemerkt wurde oder, wenn es bemerkt wurde, dass es diskret behandelt wird.
Das ist einer der wesentlichen Funktionen des "Code of Silence" oder der "Mauer des Schweigens" in der Cop Culture. Die Mauer schützt nicht in erster Linie monströse Taten und Gewalttäter in der Polizei, sondern sie schützt vor allem die (meistens) weißen Schafe davor, öffentlich die Farbe wechseln zu müssen. Das Diskretionsversprechen der Cop Culture reguliert vor allem den Alltag der Polizei, nicht seine Extreme. Noch genauer: Es kann die Grenze zwischen "Normalität" und "Ausnahme" gar nicht genau ziehen und den Schutz versagen, wenn die Solidarität "unbedingt" gilt und eben nicht an Bedingungen geknüpft ist.
Ermöglichungsraum für Überschreitungen
Der Grundsatz aus der Cop Culture "Im Dienst gilt unbedingte Solidarität" ist gleichzeitig funktional tauglich und ein Ermöglichungsraum für Überschreitungen jedweder Art. Wir haben versucht, in einem längeren Reformprozess mit der österreichischen Polizei diesen Grundsatz zu ersetzen durch den Satz: "Unsere Solidarität hat dort ihre Grenzen, wo Angehörige unserer Organisation gegen geltendes Recht verstoßen oder nachhaltig von Ziel und Grundsätzen abweichen" (Orientierungssatz 15, hier zu finden ).
Um im Bild der Schafe zu bleiben: Ich würde gern die Metapher modifizieren. Jedem Schaf kann es passieren, temporär die Farbe zu wechseln. Deshalb müssen sowohl Übergriffshandlungen als auch ideologische Radikalisierung aus der Situation und der sie umgebenden Systeme heraus gedacht werden, nicht als anthropologische Konstante.
Ich bezweifle nicht, dass es schlechte Menschen gibt, die gibt es, auch in der Polizei. Aber das scheint bei den meisten kein Gendefekt zu sein, sondern Ergebnis von Zuschreibungsprozessen, von Frustrations- und Deprivationserfahrungen, von realen und/oder subjektiven Kränkungen, unverarbeiteten Konflikten etc. Und nein, es passiert nicht allen mit der gleichen Wahrscheinlichkeit. Und nicht alle reagieren auf die gleiche Weise. Genaueres muss noch erforscht werden, aber genau das wird bis dato verhindert. Stattdessen bleibt man fast störrisch an der Vorstellung der "Einzelfälle" haften.
Als in Hessen im Jahr 2019 die sog. "Polizeistudie" in Auftrag geben wurde, erhofften sich viele einen großen Wurf, man kam aber doch nur zu dem wahrlich Aufsehen erregenden Schluss , dass die "(d)emokratischen Werte fest in der hessischen Polizei verankert" sind - was sowieso niemand seriös bezweifelt hat. Gleichzeitig vergaß man nicht zu erwähnen, dass auch Polizeibeamte und -beamtinnen Opfer von Gewalt würden.
Eine Kultur der Aufmerksamkeit
Statt solcher ministerieller "Auftragsforschung" sollten die Verantwortlichen in Ministerien und Behörden endlich den Mut aufbringen, unabhängige Forschung und Beratung zuzulassen, die nicht auf individuelle Gewalteindämmung und Rassismusverhinderung beschränkt ist, sondern die sich umfassend mit der Menschenrechtsgewährleistung in der Polizei befassen kann. Ziel eines solchen Prozesse wäre es, eine Kultur der Aufmerksamkeit zu schaffen und die zu stärken, die im Umfeld derjenigen Kollegen sind, die schon als rassistisch und/oder gewalttätig aufgefallen sind. Es wäre dafür zu sorgen, dass die Lauteren lauter und die Unlauteren wieder leiser würden. Das geht aber nicht mit dem Bollwerk aus Empörung und Delegitimierung, das jedes Mal aktiviert wird, wenn Kritik geübt wird oder einmal das Wort "latent" fällt, wenn es um die strukturellen Bedingungen von Rassismus und Gewalt geht.
Ob es latenten Rassismus in der Polizei gibt, kann man erst beantworten, wenn man sich über die Bedeutung des Wortes verständigt hat. Das Fiese an der Latenz ist ja, dass sie nicht offenbar wird, sonst hätte Frau Esken ja auch von "manifestem Rassismus" gesprochen. In beide Richtungen handelt es sich also um einen unbestimmbaren Begriff. Aber ich gehe auch davon aus, dass viel mehr "rechtes" Gedankengut in der Polizei vorhanden ist, von dem aber vieles informell bleibt.
Das Böse gehört zum Guten
Es braucht Demut und die Anerkennung, dass "das Böse" (hier: Gewaltmissbrauch und Rassismus) tatsächlich überindividuell ist. Doch das fällt um so schwerer, je näher man als Organisation sich mit dem "Bösen" amalgamiert. Die Verantwortlichen in der Polizei wissen, dass sie ihren Beamtinnen und Beamten zumuten (müssen), das Böse nicht nur zu unterlassen, sondern, um es abzustellen, sich mit ihm in Verbindung zu bringen. Deshalb zähle ich die Polizei, zusammen mit der Kirche, zu den hochmoralischen Organisationen.
Der Hildesheimer Bischof Heiner Wilmer hat mit seinem berühmt gewordenen Satz "… der Missbrauch von Macht steckt in der DNA der Kirche" im Jahr 2018 auf den Hintergrund von sexueller Gewalt in der katholischen Kirche hingewiesen und damit eine heftige Kontroverse im kirchlichen Raum erzeugt. Wilmer sprach im gleichen Zusammenhang von einer "Struktur des Bösen" in der Kirche. Dort, wo das Gute eigentlich hergestellt und bewahrt werden soll, findet sich auch gleichzeitig dessen Gegenteil, das Böse oder, im Fall der Kirche, die Sünde. Das "Böse" verortet Wilmer nicht nur bei den Gläubigen und berührt die Kirche beispielweise nicht nur im Beichtgespräch, sondern auch innerhalb der Priesterschaft.
Wilmer vermeidet es, von einzelnen "verirrten Seelen" zu sprechen. Er spricht über seine Organisation. Es bedeutet ja nicht, dass die Kirche insgesamt böse oder machtmissbrauchend ist (und es bedeutet auch nicht, im Fall der Polizei, dass sie insgesamt gewalttätig oder rassistisch ist). Er weist vielmehr auf die institutionelle Verschränkung des einen mit dem anderen hin. Und dann funktioniert die Individualisierung nicht mehr.
Sehr ähnlich ist die ethische Grundproblematik der Polizei: Auch sie will das Gute, und sie steht dafür ein, es zu erzeugen bzw. zu verteidigen. Kirche und Polizei haben aber mit der Durchsetzung des Anspruchs ebenso zu kämpfen wie mit der Verhinderung des Gegenteils durch das eigene Personal, und sie haben dies lange Zeit tabuisiert. Beide Organisationen nenne ich deshalb hochmoralisch, weil ihre Aufgabe nicht nur darin besteht, das Böse zu unterlassen, sondern darin, direkt an der Grenze zwischen Gut und Böse zu arbeiten und dafür zu sorgen, dass diese Grenze nicht überschritten wird. Und mehr noch: Man muss sich mit "dem Bösen" notwendigerweise in Verbindung bringen, um seiner Berufung nachzukommen: Der Priester mit der Sünde (und den Sünderinnen), Polizistinnen mit dem "crimen" oder anderen der "guten policey" entgegenstehenden Phänomenen. Für die Polizei betrifft diese Problematik zum Beispiel das Grenzziehungsproblem der eigenen Gewaltsamkeit.
Hochmoralisch nenne ich die Polizei auch deshalb, weil es ein umfangreiches ethisches Gerüst braucht, um Dinge zu tun, die wie destruktive Gewalt aussehen, die aber juristisch oder auch vom gemeinten Sinn her im Dienst der allgemeinen Friedenssicherung stehen. Denkt man in den Kategorien, die Bischof Wilmer aufgezeigt hat, dann ist der Machtmissbrauch eben nicht oder nicht nur der delinquente oder pathologische Fehler einzelner Krimineller/Verwirrter oder Rassisten, sondern er ist als Disposition sozusagen eingebettet in die polizeiliche Handlungslogik (z.B. als Gewaltexzess, als provozierte Gewalt). Der reflexartige Verweis auf Einzelfälle dürfte dazu dienen, die strukturellen Bedingungen der Gewaltfrage nicht zur Kenntnis nehmen und damit so zu tun, als gäbe es eine überwiegende Mehrheit an unbescholtenen Beamt*innen (denen missbräuchlicher Gewalteinsatz nie unterläuft) und eine (kleine) Minderheit an schwarzen Schafen in der Polizei. Diese Unfähigkeit, das binäre Denken aufzugeben, scheint mir die eigentliche Problematik des polizeilichen Umgangs mit dem Gewaltthema zu sein (und hierin ist der Hildesheimer Bischof der Polizei und wohl auch seiner eigenen Kirche einen weiten Schritt voraus).
Polizeiliche Gewalt muss moralisch legitim sein
Die institutionelle Verweigerung der Auseinandersetzung mit dem Thema Gewaltmissbrauch erzeugt größere Probleme als die konkrete missbräuchliche Gewaltanwendung (das gilt ebenso für den Umgang mit rechtsextremen Haltungen, mit Radikalisierung und anderen Formen moralisch fragwürdigen Verhaltens).
Das Beispiel Gewalt soll zeigen, wie sehr die Organisation bemüht sein muss, ihr Handeln moralisch zu legitimieren. Gelänge dies nicht, stünde sie moralisch gesehen auf der gleichen Stufe wie diejenigen, deren Gewalt sie unterbinden oder bezwingen soll. Macht man sich diese Perspektive zu eigen, dann fällt es auch nicht mehr sehr schwer, eine latente Verbindung zwischen Gewalt und Rassismus bzw. rassistisch motivierter Diskriminierung zu ziehen. Beides untergräbt den Glauben in die moralische Integrität der Polizei, weil so getan wird, als bestehe kein Problem, wo andere sehr viele Probleme sehen.
Wenn sich eine Organisation nicht bemüht, Strukturen zu schaffen, die wirksam Gewaltexzesse, Radikalisierung und Rassismus verhindern oder minimieren oder mindestens dazu beitragen, dann nenne ich das ein strukturelles Aufklärungshemmnis. Und das ist fast genauso schlimm wie struktureller Rassismus.