Gewaltreport Britische Teenager liefern sich Messer-Wettrüsten
London - Im Kampf gegen Messermorde sieht sich die britische Polizei auf dem Vormarsch: So auch Mitte Mai, als Scotland Yard das erste Jahr der "Operation Blunt 2" bilanzierte. Ein gewisser Triumph lag in den referierten Zahlen. Fast 300.000 Jugendliche habe man in den vergangenen zwölf Monaten auf den Straßen Londons durchsucht, mehr als 10.000 davon festgenommen und über 5000 Messer konfisziert, teilten die Beamten stolz mit. Einige der Beutewaffen lagen zur Schau aus.
Die Zahlen sollten Erfolg suggerieren: Wir haben ein Rezept gegen die Messermorde gefunden. Endlich. Seit 2006 wird in den Londoner Medien kaum ein Problem so heftig diskutiert wie die ausufernden Messerstechereien unter Jugendlichen. Allein im vergangenen Jahr starben 29 Teenager einen gewaltsamen Tod, 2009 zählten die Behörden bereits neun Opfer. Und nun konnte Scotland Yard berichten, dass die Zahl der einschlägigen Straftaten in den ersten vier Monaten dieses Jahres um 11,5 Prozent zurückgegangen sei. Und zwar dank der neuen Null-Toleranz-Politik in Problembezirken.
Auf einmal wirkte London, die vermeintlich unregierbare Metropole, wie ein Polizistentraum. Doch sind die Zahlen mit Vorsicht zu genießen. Den Innenausschuss des britischen Unterhauses hat das Gewaltproblem bereits vor einem Jahr dazu bewegt, eine Kommission einzusetzen, um die unübersichtliche Faktenlage der Messerstechereien zu klären. Am Dienstag legte sie in London ihren Abschlussbericht vor, und das 118-seitige Werk zeichnet ein ungleich düstereres Bild als Scotland Yard.
"Wir sehen ein Wettrüsten", sagte der Ausschussvorsitzende Keith Vaz. "Junge Leute tragen Messer, weil sie Angst haben, dass andere Messer tragen."
In einigen Problembezirken britischer Großstädte sei es für Teenager schon fast normal, bewaffnet zu sein, heißt es in dem Bericht. Ein Motiv sei Angst: Die Jugendlichen vertrauten ihren Eltern und der Polizei nicht mehr, sie zu schützen. "Niemand will das Messer benutzen, aber man hat es zur Abschreckung", gab ein anonymer Teenager zu Protokoll.
Immer mehr Messer führen jedoch zu immer mehr Stichwunden: Die britischen Krankenhäuser verzeichneten dem Bericht zufolge in den vergangenen zehn Jahren einen 48-prozentigen Anstieg an schweren Messerverletzungen, mit einem deutlichen Sprung seit 2006. Professor Karim Brohi vom Royal London Hospital sagte den Abgeordneten, er behandele pro Monat 23 schwere Verletzungen als Folge von Messerattacken.
Der kleine Bruder als Messer-Caddy
Solche Zahlen stehen in Kontrast zur offiziellen Polizeistatistik, die seit Mitte der neunziger Jahre fallende Kriminalitätsraten ausweist. Krankenhauszahlen werden nun verstärkt herangezogen, um das wahre Ausmaß des Messerproblems zu erfassen. Sie gelten als realitätsnäher als die Verbrechensstatistiken, denn viele Opfer gehen nicht zur Polizei. Auch der British Crime Survey, eine Standardumfrage in der Bevölkerung, ist lückenhaft: So wird die Gruppe der 10- bis 16-Jährigen überhaupt erst seit Januar 2009 befragt - vorher wurde sie ignoriert.
Die Kommission des Innenausschusses hörte insgesamt 60 Experten. Sie erfuhr von einer Jugendkultur, in der ältere Jungs jüngere als Messerträger einsetzen und sie "Caddies" nennen, wie beim Golfen. Die Älteren entgehen so der Gefahr, bei einer Polizeikontrolle festgenommen zu werden, haben ihr Messer im Notfall aber zur Hand.
Die Autoren des Berichts betonen, dass die meisten britischen Jugendlichen mit Messern nichts zu tun hätten. Die Zahl derer, die immer ein Messer bei sich tragen, liege vielleicht bei drei Prozent. Diese kämen in der Regel aus sozial schwachen Vierteln in Großstädten und seien häufig in Gangs organisiert. Dass ein unschuldiger Passant erstochen werde, sei "extrem selten". 85 Prozent der Täter und Opfer seien über 18 Jahre alt. Doch gelte elf Jahre als "Risikoalter": Dann steckten viele zum ersten Mal ein Messer ein - mit dem Wechsel von einer Grund- zu einer weiterführenden Schule.
Knife Crime: Seit 2008 Chefsache
Das Phänomen Knife Crime trat erst 2006 richtig ins öffentliche Bewusstsein. In den Medien wurde es vor allem als Londoner Problem dargestellt. Tatsächlich entfallen 34 Prozent aller Messervergehen auf die Hauptstadt. Am gefährlichsten leben junge Männer aber in Strathclyde im schottischen Glasgow. Und die Regierung hat zehn Hot Spots im ganzen Land identifiziert, in die zusätzliche Mittel für Polizisten fließen.
Im Sommer 2008 wurden die Messerstecher zur Chefsache: Es gab Krisengipfel in Downing Street, und zahlreiche Programme mit klingenden Namen wie Operation Blunt und TKAP (Tackling Knife Action Program) wurden gestartet. Die Regierung rief Null-Toleranz gegenüber Messerbesitzern aus und verdoppelte die Höchststrafen. Für vier Jahre kann nun jemand ins Gefängnis wandern, der ein Messer bei sich trägt. Auch belässt die Polizei es beim ersten Mal nicht mehr bei einer Verwarnung, sondern erstattet in 90 Prozent aller Fälle gleich Anzeige.
Um die Wirkung der Strafen und Programme zu erforschen, ist noch nicht genug Zeit vergangen. "Es gibt keine Beweise dafür, dass Operation Blunt geholfen hat, die Zahl der Messerverbrechen zu reduzieren", sagt Roger Grimshaw, Forschungsdirektor des Centre for Crime Studies am Londoner King's College. Dass die Zahlen in der Polizeistatistik gesunken seien, sei jedenfalls nicht überraschend - das täten sie schließlich schon seit Jahren.
Experten empfehlen "stop and search"
Die Erfolgsmeldungen von Scotland Yard wirken daher etwas voreilig. Auch das TKAP-Programm, welches auf ähnliche Methoden setzt, kann noch nicht abschließend beurteilt werden. Skeptiker weisen darauf hin, dass die Anzahl an Küchenmessern in britischen Haushalten ins Unendliche gehe und Konfiszierung daher auf Dauer keine Lösung sei.
In dem Parlamentsbericht heißt es, die hohen Haftstrafen schreckten die Teenager kaum, die Drohung sei zu abstrakt. Von der Polizei erwischt zu werden, scheine hingegen Eindruck zu machen. Die Mehrheit der befragten Experten empfiehlt daher die Weiterführung der "stop and search"- Strategie.
Reine Polizeiarbeit reiche jedoch nicht, schreiben die Autoren. Um Kinder davon abzuhalten, Messer einzustecken, müsse man ihnen ein Gefühl der Sicherheit geben und mehr in Prävention investieren.
Auch Ann Oakes-Odger glaubt an eine Kombination aus Unterstützung und Härte. Die 58-Jährige, deren Sohn vor vier Jahren an einem Geldautomat erstochen wurde, weil er einen Drängler zurechtgewiesen hatte, geht drei Mal die Woche in Schulen, um von ihrem Sohn zu erzählen und die Kinder aufzuklären. Sie will solche Stunden in allen Klassenräumen verpflichtend machen.
Der Innenausschussvorsitzende Vaz fordert nun einen weiteren Krisengipfel in Downing Street. "Es hat schon zu viele tragische Todesfälle gegeben", sagte er. "Wir müssen dieses Wettrüsten stoppen."