Graffiti gegen das Kirchensterben Ein Segen, dieser Sprayer
Ein wenig schüchtern geht Hans-Dieter Udri, 70, auf den Mann zu, der in der Mitte der Kirche steht, Hände in den Hosentaschen, auf dem Kopf ein schwarzer Hut, um den Hals eine Gasmaske. "Sie sind der Stefan Strumbel?", stellt Udri fragend fest. Dann beginnt er zu erzählen, von früher, als er noch Kind war, als jeder sonntags zur Messe ging, jung wie alt. Christ sei er, "ich glaub an des do" sagt er in krachendem Alemannisch. Sein Blick wandert gen Kirchendach. Nur in die Messe gehe er kaum mehr.
Udri ist in dem kleinen Ort Goldscheuer einer von vielen Christen, die der Messe schon lange fern bleiben. Und er ist einer von vielen, die sich neuerdings wieder interessieren für ihre Dorfkirche, die wissen wollen, was der Strumbel da macht.
Vor 50 Jahren wurde für die Kirche "Maria, Hilfe der Christen" der Grundstein gelegt. Udri war Messdiener, als das Gotteshaus 1964 eingeweiht wurde. Es ist bemerkenswert, dass er die Kirche an diesem Mittag überhaupt betreten kann. Die Tür war jahrelang verschlossen, wenn keine Messe oder sonstigen Veranstaltungen stattfanden. Es ist aber auch bemerkenswert, weil in den letzten Jahren kaum jemand kam, wenn die Tür offen war.

Rettung einer Dorfkirche: Die kleine Revolution von Goldscheuer
Von den rund 2200 Einwohnern in Goldscheuer sind rund 1200 Katholiken. Zuletzt kamen sonntags weniger als drei Prozent der Gläubigen in die Messe. Zu wenig, befand das Ordinariat in Freiburg und erwog, die Kirche zu schließen.
Hunderten katholischen Gotteshäusern droht in den nächsten Jahren ein ähnliches Schicksal, mehr und mehr Mitglieder treten aus der Kirche aus, und auch unter den Kirchentreuen scheint die Lust auf Messe stetig zu sinken.
Es stand schlecht um die Dorfkirche von Goldscheuer. Sie war marode, die Fassade trostlos, die Innenwände waren zum Teil schwarz geworden von den davorstehenden Heizungen. Warum sollte man investieren in ein Gebäude, das kaum mehr genutzt wird?
Dass die Stimmung inzwischen mehr nach Aufbruch ist als nach Aufgabe, dass die Kirche nicht nur erhalten bleibt, sondern bald Menschen nach Goldscheuer kommen werden, um sie zu bestaunen, erzählt viel über den Ort, und mehr noch: über das Verhältnis vieler Christen zur Kirche.
Pfarrer Braunstein staunte ob der Bereitschaft, Geld zu geben
Als Pfarrer Thomas Braunstein, 47, die Kirche in Goldscheuer übernahm, begann für ihn eine Zeit des Bangens. Das Erzbischöfliche Ordinariat knüpfte den Verbleib des Gotteshauses an Bedingungen: Spenden mussten her, um einen Teil der Renovierung zu finanzieren.
Eine schwere Zeit auch für Menschen wie Hanne Schäfer, 63, seit 30 Jahren Mitglied des Pfarrgemeinderats. Schäfers Mutter nähte vor rund 50 Jahren zur Einweihung der Kirche die Decken für den Altar und die Gewänder für die Ministranten. "Unsere Eltern haben große Opfer gebracht", sagt sie, "sie haben auch Geld gesammelt, damit die Kirche gebaut werden konnte." Für Schäfer und andere Ratsmitglieder ging es nicht nur darum, eine Kirche zu erhalten, es ging um den Fortbestand dessen, was ihre Eltern schufen.
Sie gingen von Tür zu Tür, trafen auf Menschen wie Hans-Dieter Udri, der sich trotz Vorbehalten ein Dorf ohne Kirche nicht vorstellen kann. Sie trafen Menschen, denen ihre Kirche lieb und teuer ist.
Auch Pfarrer Braunstein ging sammeln, er besuchte Unternehmer, einige sind aus der Kirche ausgetreten, doch auch er staunte ob der Bereitschaft, Geld zu geben. Die Kirche, so scheint es, ist der Fixpunkt geblieben. Nur dass ihn kaum einer mehr aufsuchte.
Es ist, als hätte das Schicksal zwei zusammengebracht
Rund 50.000 Euro kamen insgesamt zusammen, eine enorme Summe für den kleinen Ort. Das reicht noch nicht ganz, rund ein Drittel der insgesamt 250.000 Euro muss die Gemeinde aufbringen. Das Ordinariat stimmte im Sommer 2010 der Renovierung zu.
Dass die Chancen gut stehen, die fehlenden 30.000 Euro aufzubringen, dass bald auch auswärtige Besucher Geld in die Kassen bringen könnten, liegt an einem Mann: Stefan Strumbel. Der Künstler, 32 Jahre alt, lebt im benachbarten Offenburg. Er wird oft als Streetartist bezeichnet, auch weil sein Schaffen auf der Straße begann, als er Wände oder Züge besprühte. Heute malt er in seinem Atelier Frauen in Schwarzwälder Tracht mit einem Gewehr im Arm, er entwirft Kuckucksuhren mit Handgranaten neben dem Ziffernkreis und lackiert sie in grellen Farben. Sein Thema: Heimat. Er macht aus Tradition eine Provokation und verlangt damit vom Betrachter eine Auseinandersetzung mit der je eigenen Heimat. Was ist Heimat? Wo ist Heimat?
Für Strumbel hat Provokation jedoch Grenzen. Weil er auch mit religiösen Symbolen arbeitet, suchte er den Kontakt zu Pfarrer Braunstein. Der gab ihm theologischen Rat, etwa ob es vertretbar sei, einen Totenkopf oben auf ein Kruzifix zu setzen. Nein, sagte Braunstein, Jesus besiegte den Tod, der Schädel musste unter das Kreuz. Heute nennt der Pfarrer den Künstler "ein Geschenk des Himmels".
"Ich will einen Ort der Geborgenheit schaffen"
Tatsächlich ist es, als hätte das Schicksal - oder wer auch immer - in Goldscheuer zwei zusammengebracht, die sich ergänzen wie Puzzleteile: Hier Strumbel mit seiner Heimatkunst, dort gläubige aber kirchenferne Christen, die sich nun neu begeistern für ein Gebäude, das ihnen einmal Heimat war.
Als Strumbel das erste Mal das Gotteshaus besuchte, war er geradezu angewidert von seiner äußerlichen Tristesse. "Die Kirche sah aus wie eine Turnhalle", sagt er. Doch als er eintrat, änderte sich seine Meinung: "Selbst als die Kirche entkernt war hatte sie eine unbeschreibliche Aura."
Wer Strumbel das sagen hört, mag zunächst stutzen: Auch innen bleibt es ein recht profaner Bau, nur das Licht, das durch die großen, mit bunten Motiven gestalteten Fenster in unzählige Farben zerfällt, verleiht dem Raum ein wenig Mystik.
Doch was kann reizvoller sein für einen Künstler, als sein Werk in die Bedeutungsschwere einer katholischen Kirche zu setzen? Und was verlockender für einen Sprayer, als die großflächigen Wände?
Wie die Maria von Goldscheuer unter die Haube kam
Strumbel sprudelte vor Ideen, Braunstein merkte, dass hier mehr gelingen könnte als die bloße Wiederherstellung eines Baus aus den sechziger Jahren. Sie einigten sich darauf, dass Strumbel den kompletten Innenraum der Kirche neu gestalten darf. Nicht nur Fenster wie in der Vergangenheit schon Neo Rauch oder Marc Chagall - Strumbel bekam alles.
Auf eine Gage verzichtet er. Natürlich wird er von der Aufmerksamkeit profitieren, er sagt selbst, die Langlebigkeit von Kunst in Kirchen sei unvergleichlich. Er spricht jedoch vor allem von seiner sozialen Aufgabe. "Ich will einen Ort der Geborgenheit schaffen", ist so ein Satz, den man oft von ihm hört.
Wie er sich einen solchen Ort vorstellt, ist inzwischen in der Kirche zu besichtigen. Er hat breite Streifen aus dunkelgrauer und weißer Farbe an einige Wände gestrichen. An der Stirnseite des Saals hing eine Kreuzigungsgruppe aus Holz über dem Altar, sie liegt nun auf dem Boden, wird aber wieder anmontiert. Künftig wird hinter dem Gekreuzigten ein LED-Band in wechselnden Farben leuchten.
An zwei Wänden im Eingangsbereich werden weiß lackierte Sprechblasen hängen, unter ihnen soll die Kerzenauslage sein. Das Licht der Flammen wird in den Blasen schimmern, Symbol für die stillen Wünsche der Gläubigen.
LED-Bänder, Streifenoptik und Comic-Elemente in einer katholischen Kirche? Das klingt nach einer kleinen Revolution. Doch Strumbel stieß auf erstaunlich wenig Widerstand beim Ordinariat, obwohl "jeder Zentimeter genehmigt werden musste", wie er sagt.
Weitaus skeptischer war zunächst der Pfarrgemeinderat von Goldscheuer. Als Strumbel sein Konzept vorstellte, schienen die Menschen schockiert. Überzeugungsarbeit musste er vor allem bei dem Bild leisten, für das die Kirche in Goldscheuer künftig bekannt sein wird: Eine rund sechs Meter hohe Madonna, die das Jesuskind im Arm hält.
"Vielleicht findet jemand das blasphemisch, eine Provokation ist es allemal"
Strumbel sprüht sie an die Wand oberhalb der Empore, die über dem Eingang in den Raum ragt. Dutzende Farbdosen sind dafür nötig, Strumbel zieht bei der Arbeit seine Gasmaske auf, zu hoch wird die Konzentration von Aerosolen in der Luft.
Das Madonnenbild auf der Eingangs- und der gekreuzigte Jesus auf der Altarseite werden sich gegenüberstehen, hier der Neugeborene im Arm seiner Mutter, dort der zu Tode Gefolterte.
In seinem Madonnenbild verbindet Strumbel die zwei Bedeutungen von Kirche für die Leute von Goldscheuer, wahrscheinlich für viele Christen: Jesu' Mutter wird Tracht tragen. Sie vereint die transzendente mit der profanen Dimension von Kirche - Glaube und Heimat. "Vielleicht findet jemand das blasphemisch, eine Provokation ist es allemal", sagt Barbara Martin, Architektin vom Erzbischöflichen Bauamt in Freiburg.
Die Damen aus dem Pfarrgemeinderat störten sich nicht an vermeintlicher Gotteslästerung. Strumbel wollte der Heiligen ursprünglich den von ihm häufig verwendeten Schwarzwälder Bollenhut aufsetzen. Die falsche Wahl, in Goldscheuer trägt man Hanauer Tracht und dazu gehört eine Schleifenhaube. Natürlich tragen die Menschen in Goldscheuer noch seltener Schleifen auf dem Kopf, als dass sie sonntags zur Kirche gehen. Doch Strumbel folgte dem Wunsch: Die Heilige Maria kommt unter die Haube.
Pfarrer Braunstein glaubt an die Magnetwirkung der Kunst
Mitte März feierte Pfarrer Braunstein einen Baustellengottesdienst. 170 Menschen, fast sechs Mal so viele Besucher wie sonst kamen zur Messe, in der Dorfkirche ist so viel Leben wie lange nicht mehr.
Am 1. Juli wird Braunstein den Kirchensaal mit einem Gottesdienst eröffnen. Es spricht viel dafür, dass dann noch mehr Menschen kommen, dass sie ihre neue Kirche sehen wollen, wie Hans-Dieter Udri. Dem gefällt, was er sieht: "Man muss schließlich an die denken, die in 30 oder 40 Jahren hierher kommen."
Braunstein glaubt daran, dass auch junge Menschen durch Strumbels Kunst einen neuen Zugang zur Kirche finden können. Zweifeln entgegnet er seine Lebenshaltung: "Ich bin Optimist."
Sicher ist: Strumbel hat mit seiner Kunst etwas in Gang gebracht. Und: "Man munkelt, dass die älteren Damen zur Eröffnung ihre Tracht wieder auspacken wollen", sagt er.