Reaktionen auf Benedikt und das Missbrauchsgutachten »Wir erleben hier den Zusammenbruch eines Denkmals«

Durch das Missbrauchsgutachten im Auftrag des Erzbistums München wird die Glaubwürdigkeit des emeritierten Papstes Benedikt XVI. stark beschädigt. Betroffene fordern weitere Aufklärung – auch von Benedikt selbst.
Joseph Ratzinger nach seiner Weihe zum Erzbischof 1977 im Münchner Liebfrauendom

Joseph Ratzinger nach seiner Weihe zum Erzbischof 1977 im Münchner Liebfrauendom

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Hartmut Reeh / dpa

Die Vorstellung des Gutachtens zu sexuellem Missbrauch im Erzbistum München-Freising hat Entsetzen ausgelöst.

Das vom Erzbistum selbst in Auftrag gegebene Gutachten der Anwaltskanzlei Westpfahl Spilker Wastl (WSW) kommt zu dem Ergebnis, dass Fälle von sexuellem Missbrauch in der Diözese über Jahrzehnte nicht angemessen behandelt wurden – und wirft den ehemaligen Erzbischöfen Friedrich Wetter und Joseph Ratzinger, dem heute emeritierten Papst Benedikt XVI., konkret und persönlich Fehlverhalten in mehreren Fällen vor. Auch der aktuelle Erzbischof, Kardinal Reinhard Marx, wird belastet.

Die knapp 1900 Seiten starke Studie ist auf den Seiten der Kanzlei online abrufbar . In ihr ist von mindestens 497 Kindern und Jugendlichen als Opfern sexueller Gewalt von 1945 bis 2019 die Rede. Laut der Studie gibt es mindestens 235 mutmaßliche Täter, darunter 173 Priester und neun Diakone.

Den Erzbischöfen werden Fehler im Umgang mit Missbrauchsfällen vorgeworfen. Der emeritierte Benedikt XVI. weist die Vorwürfe vollumfänglich zurück. Die Juristen halten sein Dementi, insbesondere im Fall des Wechsels eines wegen Missbrauchstaten aufgefallenen Priesters 1980 nach München, jedoch für wenig glaubhaft.

Der Sprecher der Opferinitiative Eckiger Tisch, Matthias Katsch, sprach von einer »historischen Erschütterung« der Kirche. »Wir erleben hier den Zusammenbruch eines Denkmals«, sagt Katsch dem SPIEGEL in Bezug auf die Vorwürfe gegen Benedikt. Die Missbrauchskrise der katholischen Kirche sei endgültig in ihrem Zentrum angekommen – im Vatikan. »Dieses Lügengebäude, was zum Schutz von Kardinal Ratzinger, von Papst Benedikt, errichtet wurde hier in München, das ist heute krachend zusammengefallen«, sagte Katsch zudem der Nachrichtenagentur dpa.

Einige Taten hätten nur deswegen stattfinden können, weil Joseph Ratzinger in seiner Zeit als Erzbischof von München und Freising die Entscheidung getroffen habe, einen Missbrauchstäter in seinem Bistum einzusetzen. Das »täterzentrierte System« sei »an der Spitze belastet«, sagte Katsch. »Jeder, der das jetzt hier gerade miterlebt hat, muss erkennen, dass dieses System an sein Ende gekommen ist.«

Der Münsteraner Kirchenrechtler Thomas Schüller sieht durch das Gutachten den Ruf des emeritierten Papstes Benedikt XVI. dauerhaft beschädigt. »Das ist sein persönliches Waterloo«, sagte Schüller. »Joseph Ratzinger hat die letzte Chance vertan, reinen Tisch zu machen. Er wird der Unwahrheit überführt und demaskiert sich damit selbst als aktiver Vertuscher. Er fügt der katholischen Kirche und dem Papstamt damit einen irreparablen Schaden zu.«

Schüller sagte, über Ratzingers spätere Zeit als Präfekt der römischen Glaubenskongregation und Papst werde man erst lange nach seinem Tod abschließend urteilen können, wenn die Archive geöffnet würden.

Entsprechend verlangt die Reformbewegung »Wir sind Kirche« auch weitere Untersuchungen in Deutschland. Sie forderte, »dass alle deutschen Bistümer unverzüglich und möglichst nach gleichem Standard Missbrauchsgutachten vorlegen, die Täter und Vertuschungsstrukturen offenlegen«, heißt es in einer Mitteilung.

Reaktion von Benedikt XVI. gefordert

Es gebe ein »toxisches Muster« aus Vertuschung durch Leugnen, Versetzen und Wegschauen. Die Reformer beklagen eine »immer zwielichtiger werdende Rolle des damaligen Münchner Erzbischofs Joseph Ratzinger«. Der 94-jährige frühere Pontifex müsse sich seiner Verantwortung stellen.

»Die Zahlen sind furchtbar, aber leider nicht überraschend«

Hans Zollner, Jesuitenpater

Auch der Missbrauchsexperte und Jesuitenpater Hans Zollner forderte ein Zeichen Benedikts. »Jetzt muss etwas vom emeritierten Papst Benedikt XVI. kommen. Er muss noch mal darauf reagieren«, sagte er.

Zollner ist Mitglied der 2014 eingerichteten päpstlichen Kommission für den Schutz von Minderjährigen und fungiert damit als externer Berater für den Vatikan. Er sagt: »Die Zahlen sind furchtbar, aber leider nicht überraschend.«

Übergabe des Gutachtens an Generalvikar Christoph Klingan (r.)

Übergabe des Gutachtens an Generalvikar Christoph Klingan (r.)

Foto: Sven Hoppe / dpa

Der Vatikan will das Gutachten in den kommenden Tagen studieren. Man werde es einsehen und könne dann angemessen die Details prüfen, teilte der Sprecher des Heiligen Stuhls, Matteo Bruni, mit. Man wolle den eingeschlagenen Weg zum Schutz der Kleinsten weitergehen. Benedikt lebt seit seinem Rücktritt in einem Kloster im Vatikan.

Missbrauchsexperte Zollner mahnte bei der Aufarbeitung an: »Für eine wirkliche Aufarbeitung sind die menschliche, psychische und spirituelle Seite wichtig. Nur dann begreift man, was mit den Opfern passiert ist.«

apr/dpa/AFP
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