Hebammenmangel in Deutschland Fehlstart ins Leben

Die Zustände in der deutschen Geburtshilfe sind verheerend. Hier zeigt sich, woran unser Gesundheitssystem krankt. Wäre Minister Jens Spahn nicht ständig anderweitig beschäftigt, könnte er daran etwas ändern.
Foto: imago/ Sven Ellger

Ist doch eine gute Nachricht: In Deutschland werden wieder mehr Kinder geboren. So schön das ist, so verschärft jede weitere Geburt ein großes Problem, denn die Anzahl der Hebammen und die der Geburtsstationen sinkt seit Jahren - mit zum Teil katastrophalen Folgen. In dieser Woche haben meine Kollegen und Kolleginnen auf SPIEGEL ONLINE unter anderem darüber berichtet, dass es auf Sylt keine Geburtsstation mehr gibt.

Videoreportage: "Zur Geburt musst du aufs Festland"

Grauenhafte Zustände

Hochschwangere werden nun vor die Wahl gestellt, sich entweder vor der Geburt auf dem Festland kasernieren zu lassen oder sich unter Wehen in den Regionalzug zu setzen. Für ein reiches Industrieland wie Deutschland eine untragbare und beschämende Situation.

Denn anders als unser neuer Gesundheitsminister behauptet , weiß man oft nicht, wann genau eine Geburt stattfindet und schon gar nicht, wie sie verlaufen wird. Im Jahr 2016 wurden in Deutschland 66.851 Kinder  vor der 37. Schwangerschaftswoche geboren, das sind immerhin 8,6 Prozent aller Neugeborenen.

Geburten in Deutschland

Jahr geborene Kinder
2011 662.685
2012 673.544
2013 682.069
2014 714.927
2015 737.575
2016 792.131
Quelle: Statistisches Bundesamt

Die Insel ist kein Einzelfall, in immer mehr ländlichen Regionen, aber auch in Metropolen wie Berlin erleben werdende Eltern Horrorgeschichten, müssen stundenlang von Krankenhaus zu Krankenhaus fahren, weil es nirgendwo Kapazitäten gibt - und schließlich wird das Kind auf einem Parkplatz geboren.

Eine Geburt kann eine anstrengende, aber wunderschöne Angelegenheit sein, wenn alles gut geht, sie kann aber auch extrem stressvoll und traumatisierend sein, wenn nicht alles nach Plan läuft - ein Umstand, der leider selten thematisiert wird. Je weniger Hebammen und Geburtsstationen es gibt, desto mehr geraten die verbliebenen Fachkräfte unter Druck - und darunter leiden dann am Ende die Gebärenden, die unter Umständen nicht mehr optimal betreut werden können.

Mit Geburten wird man nicht reich

Warum werden immer mehr Geburtsstationen geschlossen? Die Antwort ist einfach, aber brutal: Geburten werfen für die streng auf Wirtschaftlichkeit gebürsteten Kliniken zu wenig Gewinn ab. Das bedeutet auch, dass die Kliniken die Frauen nach der Geburt möglichst schnell wieder entlassen, denn Krankenhausbetten sind teuer - und um die Nachsorge könnten sich ja eigentlich die Hebammen kümmern, wenn da nicht eine winzige Kleinigkeit wäre:

Der Hebammenberuf wird immer unattraktiver, steigende Beiträge zur Haftpflichtversicherung zwingen immer mehr Hebammen zur Aufgabe, selbst in den großen Städten wird Neuschwangeren inzwischen dazu geraten, "schon mit dem Schwangerschaftstest in der Hand" die Hebamme anzurufen. Die Folgen für die werdenden Eltern und ihren Nachwuchs sind fatal, denn zu oft bleiben junge Eltern mit ihren Fragen rund um Kaiserschnitt, Milcheinschuss oder Stillen alleine.

Berichten Sie uns von Ihren Erlebnissen

Was sind Ihre Erfahrungen mit Hebammen? Welche Unterstützung haben Sie durch Ihre Hebamme erfahren - und was hätten Sie sich gewünscht? Schreiben Sie uns an spon.hebammen@spiegel.de 
(Mit einer Einsendung erklären Sie sich mit einer - gegebenenfalls anonymisierten - Veröffentlichung auf SPIEGEL ONLINE und sämtlichen anderen Medien der SPIEGEL-Gruppe einverstanden.)

Was macht Jens Spahn eigentlich beruflich?

Die Probleme sind seit Langem bekannt, bereits 2012 warnte der Hebammenverband vor Engpässen. Trotzdem verschlimmert sich die Situation seit Jahren. Und man kann ausnahmsweise mal nicht sagen, dass die Öffentlichkeit davon keine Notiz genommen hätte. Bereits im Jahr 2010 erreichte eine Petition , die den Bundestag zur Gewährleistung der wohnortnahen Versorgung von Frauen mit Hebammenhilfe aufforderte, erfolgreich das Quorum und musste im Petitionsausschuss behandelt werden - allerdings ohne Erfolg, wie man unschwer erkennen kann.

Passiert ist unterdessen seitens der Politik reichlich wenig. Keine einzige Partei machte das Thema im vergangenen Bundestagswahlkampf zu einem zentralen Thema - unverständlicherweise, kann man doch davon ausgehen, dass die überwiegende Anzahl der Wählerinnen und Wähler im Laufe ihres Lebens mindestens einmal einen Kreißsaal von innen sieht beziehungsweise gesehen hat.

Während die deutsche Wirtschaft Rekordüberschüsse erzielt und die Kommunen besser dastehen denn je, läuft im Gesundheitssystem so ungefähr alles schief, was schieflaufen kann. Genügend Geld für eine Verbesserung der Situation in der Geburtshilfe wäre eigentlich da, doch da kein Klinikchef am Ende des Tages mit dem goldenen Porsche nach Hause fährt, weil die Geburtsstation so große Gewinne abwirft, liegen die Prioritäten woanders. Der Markt regelt eben nicht alles zum Besten.

Der neue Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU), der immerhin auch mal gesundheitspolitischer Sprecher seiner Fraktion war, täte gut daran, die dringend nötige Reform unseres Gesundheitssystems endlich auf den Weg zu bringen. Denn nicht nur Hebammen, sondern auch Krankenpfleger, Krankenschwestern und Mitarbeiter in der Altenpflege klagen immer lauter über unmögliche Arbeitsbedingungen, sprechen gar von einer drohenden Katastrophe.

Eins ist klar: Die Zeit des "Weiter-so" ist abgelaufen. Jens Spahn sollte endlich anfangen, seinen Job zu machen, anstatt sich öffentlichkeitswirksam um tanzende Menschen  oder "Recht und Ordnung in Arbeitervierteln"  zu sorgen.


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