Heimkinder-Demo "Viele haben Angst, auch heute noch"
Berlin - Angelika S., 56, weiß nicht, was es heißt, eine Familie zu haben. Seit ihrer Geburt lebte sie in einem Heim, wurde dann zwischen Jugendamt, Heim und Pflegemutter hin und her gereicht. Emotional erholt hat sie sich davon nie, ihre Ehe scheiterte, sie ist arbeitslos, hat einen Selbstmordversuch hinter sich.
"Aus mir ist nichts geworden", sagt S. Mit den Jahren habe sie das akzeptiert, doch etwas Wesentliches fehle ihr: das Eingeständnis der Verbrechen, die an ihr begangen worden seien. Und um dieses einzufordern, ist sie nun von Offenburg nach Berlin gereist.
Gemeinsam mit 250 ehemaligen Heimkindern demonstriert sie an diesem Donnerstag im Regierungsviertel gegen Gewalt und sexuellen Missbrauch in Kinder- und Pflegeheimen. Zehneinhalb Stunden saß sie im Zug. Eine Fahrt mit dem ICE kann sie sich nicht leisten. Aber sie weiß: Lange genug hat sie sich versteckt - aus lauter Scham für Dinge, die andere ihr zugefügt haben.
"Jetzt reden wir"
Es ist das erste Mal, dass sie sich so gezielt an die Öffentlichkeit wenden. Mit einer drei Meter großen Prügel-Nonne aus Pappe wollen die Opfer auf sich aufmerksam machen, provozieren und gegen Misshandlungen in Kinder- und Pflegeheimen kämpfen. Ihre Banner tragen die Aufschriften "Öffnet die Archive" und "Jetzt reden wir". Sie marschieren am Bundestag vorbei, fordern vor dem Brandenburger Tor eine Entschuldigung und eine Entschädigung.
Gebrandmarkt seien die Opfer durch einen in den fünfziger und sechziger Jahren gängigen Erziehungsstil, sagt Dr. Michael Schmidt-Salomon, Mitorganisator der Demonstration und Vorstandssprecher der Giordano-Bruno-Stiftung. "Schwarze Pädagogik" nennt er diesen Stil. "Die Maxime war Zucht und Ordnung. Gemeint war jedoch Züchtigung und Unterordnung", so Schmidt-Salomon.
Vielen Heimkindern wurde die emotionale Lebensgrundlage geraubt. Sie funktionieren nur noch, anstatt zu leben. Lange wurde das Thema politisch ignoriert, erst mit den Skandalen an Eliteschulen schenkte man auch den Heimkindern Gehör. "Der Staat hat seine Aufsichtspflicht nicht wahrgenommen", meint Schmidt-Salomon.
Opfer kritisieren Runden Tisch
Auch Peter Henselder, 59, ist in Berlin dabei. Er trägt ein T-Shirt, auf dem eine Nonne zu sehen ist, die einem Jungen den Hintern versohlt. Von Geburt an bis zu seinem 18. Lebensjahr lebte Henselder in einem Kölner Waisenhaus. Was ihm aus dieser Zeit geblieben ist, sind tiefe Narben, nicht nur auf seinem Hinterkopf.
Von einem Pfarrer wurde er zunächst sexuell misshandelt, von der Heimschwester anschließend verprügelt. Ein Pfarrer mache so was schließlich nicht, sagte ihm die Schwester. Anschließend musste er seine vermeintlichen Lügen beichten. "Wir wurden unter Druck gesetzt, so dass wir weiterhin zur Verfügung standen und dabei den Mund hielten", sagt Henselder. "Viele haben Angst, auch heute noch."
Die Demonstration findet zeitgleich mit dem siebten Runden Tisch "Heimerziehung in den fünfziger und sechziger Jahren statt". Moderiert wird die Runde von der ehemaligen Bundestagsvizepräsidentin Antje Vollmer. Die Opfer sehen sich jedoch nicht durch das Gremium vertreten und befürchten, ihre Misshandlungen würden kleingeredet.
Sie wollen daher für die Anerkennung der erlittenen Misshandlungen als Menschenrechtsverletzungen kämpfen. Damit stiegen auch ihre Chancen, für das Leiden doch noch entschädigt zu werden. Nach vielen Jahren.