40 Jahre nach dem »Stern«-Skandal NDR veröffentlicht alle Bände der gefälschten Hitler-Tagebücher

»Stern«-Reporter Gerd Heidemann präsentiert die gefälschten Hitler-Tagebücher (1983)
Foto: A2677 Chris Pohlert / dpaIm Frühjahr 1983 ereignete sich einer der größten Medienskandale der Bundesrepublik: Der »Stern« präsentierte die angeblichen Tagebücher Adolf Hitlers – die sich bald darauf als Fälschung entpuppten. Nun, knapp 40 Jahre später, veröffentlicht der Norddeutsche Rundfunk (NDR) die kompletten 60 Bände der Fälschung auf seiner Website .
Geschrieben hatte die Bücher einst der Kunstfälscher Konrad Kujau. Der »Stern«-Reporter Gerd Heidemann kaufte die Aufzeichnungen im Auftrag seines Verlags auf. Sie sollten nach und nach veröffentlicht werden, wozu es nach der Enttarnung der Fälschung nicht mehr kam.
Der NDR kam allerdings nicht an die Originale, die der »Stern« damals zugrunde legte, sondern griff auf Kopien zurück. Diese stammen einem Bericht der »Zeit« zufolge aus dem Nachlass der britischen Historikerin Gitta Sereny und von Anwälten, die an den Verfahren im Nachgang des Skandals beteiligt waren.
Die nun vom NDR veröffentlichten Bände werden von einer wissenschaftlichen Kommentierung des Politikwissenschaftlers Hajo Funke begleitet, wie der Sender mitteilte. Erstmals werde dadurch in »vollem Umfang« die Absicht der Fälschung deutlich, die NS-Geschichte neu zu deuten und zu verharmlosen. Das Werk war demnach nicht nur eine Fälschung, um den »Stern« hinters Licht zu führen, sondern der Versuch einer Rehabilitierung Adolf Hitlers. Tatsächlich wurde diese These in der Vergangenheit schon mehrfach publiziert, vor allem von der Historikerin Sereny.
»Diese Tagebücher sind Ausdruck von Holocaustleugnung«, sagte Funke nun. »Sie wollten Hitler von den schlimmsten Verbrechen der Nazis freisprechen.« Die zentrale Erzählung der gefälschten Tagebücher sei, dass Hitler angeblich nichts vom Holocaust wusste.
Die Historikerin Heike Görtemaker sagte, der »fiktive Hitler« der Tagebücher habe mit den »nationalsozialistischen Gewaltverbrechen« nichts zu tun. »Kujau erfindet hier eine positive Hitler-Figur.«
An zahlreichen Stellen erzählen die gefälschten »Tagebücher« demnach, wie sich Hitler um eine wohlwollende Lösung für die Juden bemüht. Zu einem Zeitpunkt, an dem der Holocaust längst entfesselt war, schreibt der fiktive Hitler, die Juden sollten zur schnellen Auswanderung bewegt werden – oder ihnen ein »sicherer Landstrich in den besetzten Gebieten« gesucht werden.
Neue Technologien, neue Recherchemöglichkeiten
Vergleichbare Zitate fanden sich allerdings bereits in den 1983 veröffentlichten Werken, was denn auch schnell dazu führte, dass der historische Unsinn als solcher aufflog. So vermutete Rudolf Augstein kurz nach dem vermeintlichen Coup des Konkurrenten eine Fälschung und schrieb wenige Tage nach der »Stern«-Veröffentlichung im SPIEGEL: »Wollte jemand die Erlebnisse des Führers an den Ereignissen entlang fälschen: Er hätte es nicht besser, aber auch nicht plumper durchziehen können. Fälschen ist schon lange keine Kunst mehr.« Und weiter: »So versteht sich wohl von selbst, dass Hitler für seine hochgeliebten Juden einen Platz im Osten finden wollte, ›wo sich diese Juden selbst ernähren können‹. Ja, das alles sollen wir glauben.«
Bereits in den Achtzigerjahren formulierte Gitta Sereny die These, dass hinter den Tagebüchern ein geschichtsrevisionistisches Interesse stand. Im Jahr 2002 schrieb sie in einem Beitrag für den »Tagesspiegel« beispielsweise: Man erkenne »durchgehende Linien politischer Einsicht und vor allem den wiederholten Versuch darzulegen, dass Hitler kein fanatischer Antisemit und nicht an den Beschlüssen zur Durchführung des Völkermords beteiligt war.«
Auch neue technische Entwicklungen ermöglichten es dem NDR, diese These weiterzuverfolgen: Angaben des Senders zufolge konnte die Handschrift der gefälschten Tagebücher nun mithilfe einer künstlichen Intelligenz lesbar und recherchierbar gemacht werden. Dabei zeige sich, dass sämtliche Begriffe des Holocaust nicht vorkommen. Schlagwörter wie »Endlösung« oder »Gaskammer« fehlten vollständig.
Hinweise auf diese Intention geben auch die Verbindungen Kujaus in ein rechtsextremes Umfeld: Dem NDR zufolge war der Fälscher »tiefer in ein neonazistisches Umfeld verstrickt als bislang bekannt«.
Michael Hollmann, Präsident des Bundesarchivs
Nach NDR-Angaben liegen die Originalbände der gefälschten Tagebücher gesperrt in einem Safe des Hamburger Verlags Gruner + Jahr. Eigentlich hatte der »Stern« 2013 in Absprache mit dem Bundesarchiv in Koblenz verkündet, die Tagebücher dorthin abgeben zu wollen: »Wir wollen das nicht wegdrücken, sondern damit angemessen und vor allem sachlich umgehen«, sagte seinerzeit der damalige Chefredakteur Dominik Wichmann.
Doch dazu kam es nicht. Laut dem Bundesarchiv wollte Gruner + Jahr die Fälschungen als Dauerleihgaben deponieren, sie wären also in seinem Eigentum verblieben. Solche Lösungen meidet die Koblenzer Behörde. Die Archivare wollen das letzte Wort haben, wenn über den Zugang zu Papieren oder deren Präsentation in Ausstellungen entschieden wird. Es wurde dann still um das Projekt, auch weil der historische Wert der gefälschten Hitler-Tagebücher überschaubar ist. Mit Blick auf die Nazizeit sind sie eine »Quelle für nichts«, sagt Michael Hollmann, Präsident des Bundesarchivs. Hollmann sieht in ihnen vor allem einen Beleg für die damalige »Lust der Deutschen, einen menschlichen Hitler geboten zu bekommen«. 2016 teilte Gruner + Jahr dann nach Angaben des Archivs mit, die Unterlagen doch nicht abgeben zu wollen. Gründe seien nicht genannt worden, so das Bundesarchiv.
Der »Stern« äußert sich laut NDR nicht auf eine Anfrage des Senders zu den neuen Recherchen. Man habe die Originale der Tagebücher nie für die Öffentlichkeit freigegeben, um »Missbrauch zu verhindern«.