Hurrikan "Irma" in Florida 24 höllische Stunden
Um kurz nach 20 Uhr ist der Spaß vorbei. Zuvor reagierten die Menschen mit einer Mischung aus morbider Schaulust und spontaner Kameraderie. Die Hotelgäste in Belle Isle spielen in der Lobby Karten oder stehen unter dem Vordach und filmen die riesigen, wogenden Palmen, bevor es zu dunkel wird. Fast alle sind gestrandete Touristen oder Evakuierte. Ein Redneck-Pärchen aus Sarasota. Eine afroamerikanische Familie aus Tampa. Eine Reisegruppe aus Großbritannien. Einige haben ihre Hunde dabei.
Das Auge des Hurrikans "Irma" ist zwar noch Stunden entfernt. Doch die Regen- und Sturmbänder, die es Hunderte Kilometer weit umtosen, haben auch Belle Isle schon erreicht, einen Ort im relativ geschützten Seenland Floridas.
"'Irma' dreht nach Osten ab", meldet ein Meteorologe im TV-Sender CNN, der auf einem Fernseher in der Eingangshalle läuft. Will heißen: Es wird ernst, der Sturm steuert nicht mehr, wie erwartet, direkt auf Tampa am Meer zu. Sondern nach Zentral-Florida, Richtung Orlando - und Belle Isle.
Das Licht geht aus, es wird still
Handys beginnen zu piepsen: Eine Tornado-Warnung des Wetterdienstes für den gesamten Bezirk. Tornados? Ja, "Irma" bringt Verwandte mit. "Keine Sorge", sagt der Concierge hinterm Tresen. "Wir sind sicher hier." Wirklich?
Drei Minuten später flackert das Licht. Aus, an, aus, an. Dann bleibt es ganz aus. Auch draußen erlöschen alle Straßenlaternen, und die Leuchtreklame der Tankstelle nebenan ist ebenfalls in der Nacht verschwunden. Blaue Blitze flackern über den Horizont, wie kleine Explosionen, einer nach dem anderen.
Es wird still. Ein Hund bellt. Die einzigen anderen Geräusche stammen von "Irma" und werden immer lauter. Knacken, Ächzen, Heulen, Zischen.
Keiner sagt etwas.
"Irma" verschlägt Floridas härtesten Wetterveteranen die Sprache. Aus Zynismus wird bald Schaudern, aus Nonchalance Besorgnis. Zwar verliert der Wirbelsturm an Kraft, als er bei Naples an der Südwestküste zum zweiten Mal an Land trifft, nachdem er zuvor die idyllische Inselkette der Keys überschwemmt hat. Doch die Kraft, die ihm bleibt, ist weiter gewaltig.

Hurrikan in Florida: "Irma" zieht nordwärts
Mit Windgeschwindigkeiten von mehr als 150 Stundenkilometern, fünf Meter hohen Sturmfluten, Stromausfällen und Tornados sorgt "Irma" in Florida für 24 höllische Stunden. Fast sieben Millionen Menschen fliehen, die größte Massenevakuierung in der Geschichte des US-Bundesstaates. Das Tampa General Hospital, das auf einer Insel steht, kann 650 Patienten nicht rechtzeitig aus dem Krankenhaus bringen, deshalb bleiben die Ärzte und Krankenschwestern freiwillig über Nacht bei ihnen. Sie wissen nicht, was sie morgens erwartet.
Noch ist der Schaden nicht abzusehen. Er wird beträchtlich und teuer sein, wenn auch nicht so verheerend wie in der Karibik, wo "Irma" mehrere Inseln zerstörte, Dutzende Menschen das Leben kostete und ein Elend anrichtete, das Jahre währen wird. Doch solche Vergleiche verlieren schnell ihren Sinn, wenn man sich selbst dem Sturm gegenüber sieht, mit all seiner Gewalt.
"Das Beste, was Sie jetzt tun können, ist beten", sagt Gouverneur Rick Scott am Sonntagnachmittag, bevor "Irma" auf Amerikas Festland trifft.
Zunächst trifft der Sturm Cudjoe Key zwischen Key West und Miami. Die flachen Inseln verschwinden unter den Wogen. "Alles steht unter Wasser", berichtet der Lokalzeitungsredakteur Larry Kahn, der in einer Schule zurückgeblieben ist. Brücken, die einzigen Verbindungen, stürzen ins Meer.
Um Kahn und den wenigen anderen Einwohnern zu helfen, die trotz aller Warnungen nicht geflohen sind, richten Air Force und Nationalgarde eine Luftbrücke ein. Dabei fliegen auch "Desaster-Leichenteams" mit, wie sie unsentimental heißen. Katastrophenschutzleiter Martin Senterfitt, der sich selbst in Sicherheit gebracht hat, spricht von einer "humanitären Krise".
"Irma" braucht weitere sechs Stunden, um schließlich Marco Island bei Naples zu erreichen. In der Zeit tankt der Sturm über dem Meer nochmal an Kraft auf. In Marco Island zieht der Sturmregen erst in die eine Richtung, wobei er Häfen und Buchten völlig trockenlegt wie ein Tsunami in Wartestellung. Dann kommt das Auge "Irmas", es wird plötzlich windstill, und auf einmal fegt alles wieder in die andere Richtung und bringt eine Flutwelle mit sich.

Mit Fluten hat vor allem Miami zu kämpfen, drüben an der Ostküste. Da sich Hurrikane gegen den Uhrzeigersinn drehen, presst "Irma", obwohl er abdrehte, enorme Wassermassen an die Strände und in die Buchten Miamis. Bald ist halb Downtown überflutet. Brickell Avenue und Biscayne Boulevard, zwei Straßen am Hafen, die von Luxuswolkenkratzern gesäumt sind, verwandeln sich in Flüsse, auf denen Schilder und Palmenblätter treiben.
Auch in Miami fällt der Strom aus. Zwei enorme Baukräne an halbfertigen Wolkenkratzern knicken und stürzen ein. "Vermeiden Sie die Gegend!", warnt die Stadtverwaltung auf Twitter. In Fort Lauderdale, nördlich von Miami, ist der Highway überschwemmt, der direkt am Strand vorbeiführt. Auch die weiße Strandmauer ist über weite Strecken kaum mehr zu erkennen. Am Flughafen wird ein Tornado gesichtet.
Insgesamt fällt schließlich der Strom in mehr als drei Millionen Haushalten aus. Denn in den USA verlaufen die Stromleitungen meist überirdisch, von Mast zu Mast, und sind deshalb besonders sturmanfällig. Die Energiekonzerne haben schon vorab Reparaturkolonnen mobilisiert, in Daytona Beach warten sie mit laufenden Motoren, doch sie wagen sich erst zum Morgengrauen hinaus.
Mit dem Sturm kommen auch Falschmeldungen
Gerüchte verbreiten sich über die sozialen Medien. Dass man Wertsachen in die Spülmaschine schließen solle, denn die sei sturmdicht (falsch). Dass illegale Einwanderer, die in Schutzzentren Zuflucht suchten, vom Grenzschutz verhaftet würden (falsch). Dass man mit seiner Waffe in einen Hurrikan schießen könne, ohne dass die Kugel wieder zurückkomme (falsch).
We are about to get punched in the face by this storm. We need to be prepared.
— Bob Buckhorn (@BobBuckhorn) September 10, 2017
Von Naples zieht "Irma" nordwärts und streift Tampa. Schon oft blieb die Stadt mit tausend Kilometern Küste verschont, der letzte Hurrikan traf sie 1921, damals hatte sie 10.000 Einwohner - jetzt sind es drei Millionen. "Wir werden es voll abkriegen", fürchtet Bürgermeister Bob Buckhorn noch am Morgen. Es bleibt, so erste Meldungen, bei einem blauen Auge.
Nach Mitternacht erreicht der gewaltigste Kern von "Irma" dann das Seenland und Belle Isle. Wie ein Güterzug kreischt er an den Mauern des Hotels vorbei. Entwurzelte Palmen fliegen über den Parkplatz, der langsam zu einem See wird.
Drinnen ist das Hotel zum Geisterhaus geworden. Die meisten Gäste haben sich auf ihre Zimmer verkrochen, ein paar Kinder streifen mit Taschenlampen umher. In den stockdunklen Fluren hat das Management die Fluchtwege mit fluoreszierenden Stäbchen illuminiert. Alle Türen nach draußen sind aber fest verschlossen - damit niemand in die Gefahr stolpert.