
Indien: Aufruhr in Gujarat
Patel-Rebellion in Indien Aufstand der Herrschenden
Im indischen Bundesstaat Gujarat herrscht Aufruhr: Nachdem am Dienstag eine Demonstration von etwa 300.000 Angehörigen der Händler- und Landbesitzerkaste der Patel in gewalttätigen Ausschreitungen endete, verhängte die Regierung am Mittwoch in allen großen Städten des Bundeslands eine Ausgangssperre. Da die Patel zudem zu einem Generalstreik aufgerufen hatten, stand unter anderem in der Hauptstadt Ahmedabad mit ihren vier Millionen Einwohnern das öffentliche Leben still.
Die Patel, die meist am Nachnamen Patel oder Patidar erkennbar sind, ärgern sich über ihre vermeintliche Benachteiligung bei der Vergabe von Studienplätzen und Beamtenposten.
Indien reserviert seit den Achtzigerjahren einen Teil der Studienplätze an staatlichen Universitäten und etwa die Hälfte aller Beamtenpositionen für Angehörige der niedrigsten Kasten. Diese Bevorzugung soll die auch heute noch allgegenwärtige Diskriminierung der so genannten Unberührbaren und anderer Gruppen mit niedrigem gesellschaftlichem Ansehen ausgleichen.
Die Patel gelten in Gujarat als Teil der höchsten Priesterkaste, der Brahmanen. Sie sehen in den Posten-Reservierungen eine institutionalisierte Ungerechtigkeit. Sie fordern, in die ebenfalls staatlich geförderte Kategorie "weitere rückständige Kasten" (OBC) zurückgestuft zu werden. Dabei hatten sie in den Achtzigerjahren noch gewaltsam gegen die Einführung eben jener Quoten gekämpft.
Was ihrer Forderung Nachdruck verleiht, ist die schiere Zahl der Patel: Etwa 15 Prozent der rund 65 Millionen Einwohner von Gujarat gehören der historisch gewachsenen Gemeinschaft an.
Viele erfolgreiche Geschäftsleute
Die Patel sind oft sehr wohlhabend, wobei die ehemaligen Landbesitzer heute im Textilgewerbe, in der Chemieindustrie sowie in Im- und Export reüssieren. In Surat kontrollieren sie den boomenden indischen Diamantenhandel.
Auch im Ausland sind Patel meist sehr erfolgreich: In den USA dominieren sie das Motelgewerbe, etwa 40 Prozent der dortigen Motels werden von Patel betrieben. In Afrika und Großbritannien sind sie traditionell im Supermarkt-Geschäft tätig. In den Feldern Medizin, Ingenieurwesen und Verwaltung waren die Patel in Indien bislang unterrepräsentiert. Auch dort wollen sie nun - per Quote - Fuß fassen. Das ist auch deshalb wichtig, weil in Indien die Vetternwirtschaft Grundlage allen Geschäftslebens ist. Ein Patel an entscheidender Stelle ist so von Nutzen für die ganze Gemeinschaft.
Mobilisiert werden die Massen von dem nur 21-jährigen Hardik Patel. Der äußerst forsch auftretende Geschäftsmann formuliert die Forderungen seiner Gemeinschaft scharf: Wenn keine Quoten für die Patel eingeführt würden, werde bei der nächsten Wahl "der Lotus nicht blühen", drohte Hardik Patel in Richtung des indischen Ministerpräsidenten Narendra Modi, dessen Heimatstaat Gujarat und dessen Symbol die Lotusblüte ist.
Busse brennen
Auch vor Gewaltandrohung macht Hardik Patel nicht halt: Wenn man Menschen ihre Rechte vorenthalte, würden diese zu Terroristen, rief er am Dienstag. Kurze Zeit später brannten 70 Busse, Demonstranten lieferten sich Straßenschlachten mit Sicherheitskräften und Angehörigen niedrigerer Kasten. Patel selbst behauptet, in einem unbefristeten Hungerstreik zu sein, bis die Regierung seinen Forderungen nachkomme.
Die Patel in Gujarat verweisen darauf, dass Patel in den benachbarten Bundesstaaten Madhya Pradesh und Rajasthan als "rückständig" eingestuft werden. Tatsächlich sind die Patel-Gemeinden dort jedoch weniger wohlhabend als die in Gujarat. Andere Agitatoren verlangen, dass die Bevorzugung bei der Vergabe von Studienplätzen und Stellen im öffentlichen Dienst nicht länger auf Basis der Kaste, sondern nach der finanziellen Situation der Familie vergeben werden müsse.
Kommentatoren in Indien bringen dem Kastenkampf der Brahmanen nur wenig Sympathien entgegen. "Das ist lächerlich", sagte etwa Aakar Patel, der Chef von Amnesty International Indien. Seine Kaste habe seit eineinhalb Jahrhunderten Zugang zu Kapital gehabt, sei modern, die Immigranten erfolgreiche Unternehmer, sagte Patel der "Los Angeles Times". Som Patidar, ein ebenfalls zu der Kaste gehörender Journalist und Kommentator, nannte die Forderungen gegenüber SPIEGEL ONLINE ungerechtfertigt. "Die Quoten sollen Menschen zugutekommen, die ,historisch und sozial benachteiligt' sind. Das trifft auf die Patel in Gujarat nicht zu."