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Café St. Oberholz: "Die Freaks haben sich etwas zurückgezogen"

Foto: Felix Broede

Chef des Berliner Oberholz-Cafés "Berlin und ich sind langsam quitt"

Das Café St. Oberholz ist als Treffpunkt der digitalen Boheme berühmt geworden: Kreative grübeln hinter Laptops, viele Geschäftsideen wurden hier geboren. Der Betreiber Ansgar Oberholz schwärmt im Interview von der Geschichte des Gebäudes und von skurrilen Fundstücken.

SPIEGEL ONLINE: Herr Oberholz, Ihr Buch handelt nicht davon, was all die Kreativen bei Ihnen in ihre Laptops schreiben, sondern von den Widrigkeiten, einen gastronomischen Betrieb zu eröffnen. Warum?

Oberholz: Das Thema digitale Boheme ist recht erschöpft. Natürlich gibt es auch in dieser Szene allerhand Anekdoten, wie die Amerikanerin, die das Geld für ihren halbleer getrunken Kaffee zurückhaben wollte, da sie befand, dass das Internet heute zu langsam sei. Aber ich fand es spannender zurückzublicken, wie alles entstanden ist.

SPIEGEL ONLINE: Wieso hatten Sie dieses Bedürfnis?

Oberholz: Es ist die nahezu unbekannte Seite des St. Oberholz, die noch nicht beleuchtet wurde. Der Rosenthaler Platz und auch die Geschichte des Hauses sind so spannend, dass sie es wert sind, aufgeschrieben zu werden.

SPIEGEL ONLINE: Was macht es so spannend?

Oberholz: Die aus dem damaligen Württemberg zugewanderten Brüder August und Carl Aschinger eröffneten ab 1892 "Bierquellen", also Trinkhallen in Berlin, eine auch am Rosenthaler Platz. Dort, wo wir jetzt ein Co-Working-Büro und Appartments betreiben, hatten die Brüder Aschinger ihr Bureau. Franz Biberkopf, die Hauptfigur aus "Berlin Alexanderplatz" von Alfred Döblin, war oft hier. Genauso wie Döblin und sein Kumpel George Grosz. Die Tatsache, dass deren Hände das gleiche Treppengeländer berührten, an dem ich täglich hoch und runter laufe, finde ich geradezu magisch.

SPIEGEL ONLINE: Sie hatten am Anfang keinen Plan und wollten Gastronomie "ganz neu denken". Wie denn?

Oberholz: Bei der Idee, in dem großen Laden, der sich über zwei Etagen erstreckt, Selbstbedienung zu etablieren, haben sich viele Gastronomen an den Kopf gefasst. Aber wir haben das konsequent durchgezogen. Wir waren die ersten in Berlin, in deren Küche man von der Straße aus hereinschauen konnte, wie bei einer Kochshow im Fernsehen. Es war für mich reizvoll, an die alte Geschichte des Hauses anzuknüpfen und was Neues zu machen, ohne das Alte zu verraten.

SPIEGEL ONLINE: Sie schreiben, dass Sie sich "dem Erbe des Hauses verpflichtet" fühlten und dem Rosenthaler Platz etwas schuldeten. Was denn?

Oberholz: Die Stadt hat mir viel gegeben, und ich will etwas zurückgeben. Als meine Geschäftspartnerin und ich das Haus gesehen haben, war es tatsächlich wie ein Ruf, wie ein Rausch. Je mehr wir über die Geschichte erfuhren, umso mehr merkten wir, was für ein abgefahrener Ort das ist. Man sollte die Erinnerungen dieses Ortes unbedingt respektieren und nutzen.

SPIEGEL ONLINE: Anfangs lief das Café überhaupt nicht gut. Es kamen viele verrückte, schrullige, verwirrte Menschen, aus dem Seniorenstift abgehauene Rentnerinnen, masturbierende Männer, so dass Sie damit rechneten, "bald auch Außerirdische und Tiere bewirten zu dürfen". Wer von denen kommt heute noch?

Oberholz: Die Freaks haben sich im Großen und Ganzen etwas zurückgezogen. Wir haben noch immer viele Stammbettler. Aber das gehört zum Rosenthaler Platz, und das macht ihn auch so urban, ohne das verkitschen zu wollen. Natürlich ist es problematisch, wenn die Toiletten verschmutzt sind, Spritzen rumliegen, Brandflecken von Zigaretten hinterlassen werden und es extrem riecht. Wir bemühen uns aber sehr, dass es auch auf den Toiletten nett ist, zum Beispiel laufen dort immer Kinderhörspiele. Doch klar: Manchmal rauchen dort Junkies Crack. Davon bin ich genervt, auch wenn es meist traurige Situationen sind, die ich da erlebe, wenn ich sie nach draußen begleite. Aber meine Wut richtet sich gegen die Drogenpolitik und nicht gegen die Abhängigen. Warum gibt es weit und breit keine Fixerstube - außer unseren Toiletten?

SPIEGEL ONLINE: Sie waren einer der ersten Gastronomen in Berlin, die den Gästen drahtloses Internet und Stromversorgung zur Verfügung stellten. Wie entstand die Idee?

Oberholz: Es heißt zwar oft, wir seien das erste Wifi-Café gewesen, aber das stimmt nicht. Wir haben jedoch von Anfang an gesagt, wir würden es gut finden, dulden und als Teil des Konzepts sehen, wenn Leute auch zum Arbeiten kommen. Damit waren wir die Ersten.

SPIEGEL ONLINE: Wie groß schätzen Sie die Datenmengen, die rein- und rausgehen?

Oberholz: Das sind Tonnen von Gigabytes. Unser Hotspot-Provider, der große Hotels und Unternehmen versorgt, sagt, dass er solche Mengen wie bei uns noch nicht erlebt hat. Ich wünsche mir manchmal, nur für eine Stunde all die Texte, Bilder, Konzepte, Träume sehen zu können, die über unsere Leitung gehen. Das wäre sicherlich ein schöner bunter Strauß.

SPIEGEL ONLINE: Gibt es viel Ärger mit illegalen Downloads?

Oberholz: Am Anfang ist das vielleicht einmal im Jahr passiert. Ende letzten Jahres ging das rasant nach oben, weil zum einen immer mehr abgemahnt wird und wir zum anderen immer mehr Gäste haben. Einmal hatten wir innerhalb von drei Wochen sechs Abmahnungsschreiben. Das kostet jedes Mal Anwaltskosten.

SPIEGEL ONLINE: Was wird illegal heruntergeladen?

Oberholz: Vorhersehbare Sachen wie Spiele oder Musik. Es ist aber auch lustig, wenn ich unseren Anwalt bitten muss, uns in der Sache "Illegale Bereitstellung zum Download von '13 gierige Ficklöcher'" zu vertreten.

SPIEGEL ONLINE: Wissen Sie, was Ihre Gäste bei Ihnen arbeiten oder machen?

Oberholz: Als wir anfingen, waren viele Nerds da. Das Publikum hat sich aber verändert, heute kommen klassische Freelancer wie Journalisten, Fotografen und Grafikdesigner und Leute aus der Start-up-Szene, die international ist. Viele Gäste erzählen mir, dass ihre Konzepte in unserem Laden entstanden sind. Wie brands4friends, Soundcloud und aber auch ein kleiner Sushiladen im Prenzlauer Berg wurde bei uns erdacht und geplant.

SPIEGEL ONLINE: In Ihrem Buch tauchen Wörter auf, die im digitalen Zeitalter geradezu antiquiert klingen. Wenn Sie die Straßenbahn meinen, schreiben Sie von "der Elektrischen", wenn Sie telefonieren, führen Sie "Ferngespräche". Sind Sie nostalgisch?

Oberholz: Gar nicht. Aber ich finde es wichtig zu wissen, was war und wo was herkommt, um verantwortungsvoll und kreativ damit umgehen zu können. Im Café nutzen wir auch eher altmodische Begriffe. "Gaststätte St. Oberholz" ist die hochoffizielle Bezeichnung, und auf der Karte haben wir Molle mit Kompott, eines unserer Sandwiches heißt Laubenpieperstulle. Und inmitten von all dem sitzt die digitale Boheme und die gerade angesagteste Start-Up-Szene der Welt.

SPIEGEL ONLINE: Auf der Internetseite des Oberholz betreiben Sie ein amüsantes Fundbüro, in dem Sie liebevoll-skurrile Texte über Dinge schreiben, die Gäste liegen gelassen haben: Unterwäsche, Notizen, Spielzeug, Einkaufszettel, ein einzelner Ohrring oder ein Tampon.

Oberholz: Das Fundbüro hat sich zufällig ergeben, als ich gemerkt habe, wie viel Sound in den Fundstücken steckt. Oft glauben die Leute nicht, dass die Gegenstände tatsächlich vergessen wurden, sondern dass wir das steuern. Das zeigt ja, wie absurd die ganze Angelegenheit ist. Das Erhöhen des Banalen in eine gewisse Wertigkeit macht mehr Spaß, als über vergessene iPods zu schreiben.

SPIEGEL ONLINE: Was passiert mit den Sachen, die nicht abgeholt werden?

Oberholz: Angedacht sind eine Ausstellung und eine Versteigerung. Wir haben einen alten Blumenautomaten. Den könnte man mit den Fundsachen füllen und für einen Euro ein Stück ziehen.

SPIEGEL ONLINE: Glauben Sie, dass Sie mittlerweile die Schuld, die Sie gegenüber dem Haus und dem Rosenthaler Platz empfunden haben, eingelöst haben?

Oberholz: Ich denke, dass Berlin und ich langsam quitt sind.

Das Interview führte Barbara Bollwahn

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