Gedenken an die Opfer von Hanau Vereint in der Trauer – und in der Wut

Die Leylas verloren beim rassistischen Anschlag in München vor fünf Jahren ihren Sohn. Heute sind sie nach Hanau gefahren, um mit den Familien der Opfer zu gedenken. Sie geben sich Halt, den sie von der Politik vermissen.
Aus Hanau berichtet Mitsuo Iwamoto
Gedenken an Sedat Gürbüz, eines der Opfer von Hanau, auf dem Friedhof von Dietzenbach

Gedenken an Sedat Gürbüz, eines der Opfer von Hanau, auf dem Friedhof von Dietzenbach

Foto: Mitsuo Iwamoto / DER SPIEGEL

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Sibel Leyla und Emiş Gürbüz heben die Hände zum Gebet. Gemeinsam sitzen sie auf der Bank vor dem Grab von Emiş’ Sohn Sedat, hier, auf dem Friedhof von Dietzenbach, etwa 20 Kilometer von Hanau entfernt. Hinter dem Grabstein intoniert ein Imam Verse aus dem Koran. Emiş Gürbüz trägt ein dunkelblaues Tuch um den Kopf und wippt im Takt des Gebets. Die Nachmittagssonne scheint ihr ins Gesicht. Später legt Leyla ihren Arm um Gürbüz. Sie ist vielleicht einer der wenigen Menschen, die auch nur im Ansatz verstehen können, was Gürbüz in diesem Moment fühlt.

Emiş Gürbüz und die Familien von Hanau gedenken heute ihrer verstorbenen Söhne, Mütter und Brüder: Gökhan Gültekin, Sedat Gürbüz, Said Nesar Hashemi, Mercedes Kierpacz, Hamza Kurtović, Vili Viorel Păun, Fatih Saraçoğlu, Ferhat Unvar und Kaloyan Velkov.

An ihrer Seite sind heute auch Sibel und Hassan Leyla. Auch sie verloren ihren Sohn an einen rechtsextremen Attentäter. Vor mehr als fünf Jahren war das, beim rassistischen Anschlag von München.

Nachts kann der Vater nicht schlafen und schreibt seinen Kumpels: »Tanke?«

Samstagmorgen an einer Tankstelle im Münchner Stadtteil Moosach. Es ist noch dunkel und durch die Straßen fegen die letzten Böen des Tiefs »Zeynep«. Die Leylas kaufen Butterbrezeln, Schokolade und Kaffee. Hassan Leyla trinkt seinen Kaffee mit viel Zucker. Er hat nur zwei Stunden geschlafen, seit dem Tod seines Sohns geht das so, sagt er. Wenn er wachliegt, so erzählt er, schreibt er gelegentlich seinen Kumpels: »Tanke?« Dann treffen sie sich an dieser Tankstelle auf einen nächtlichen Kaffee. Der Verkäufer, der gerade Dienst hat, macht oft die Nachtschichten hier. Leyla kennt ihn gut. Er erzählt ihm kurz auf Türkisch, dass seine Frau und er heute nach Hanau fahren, um bei den Familien zu sein.

Auf der Autobahn gibt Hassan Leyla Gas. Gelegentlich zündet er sich eine Zigarette an, während sein BMW an den im Morgenlicht schimmernden Windrädern vorbeizieht. Hassan und Sibel Leyla erzählen von ihrer Heimat in der Türkei, der südtürkischen Stadt Antakya, dem früheren Antiochia. Sie vermissten die Stadt, das Meer, die Lockerheit.

Sibel Leyla und Emiş Gürbüz beim Gebet auf dem Friedhof vor dem Grab von Gürbüz’ Sohn Sedat

Sibel Leyla und Emiş Gürbüz beim Gebet auf dem Friedhof vor dem Grab von Gürbüz’ Sohn Sedat

Foto: Mitsuo Iwamoto / DER SPIEGEL

Hassan Leyla ist in München geboren und aufgewachsen, ein richtiger »Mingara«, wie seine bayerischen Kollegen manchmal sagen würden. Sibel Leyla kam erst nach Deutschland, nachdem sie Hassan in Antakya kennengelernt hatte. Anfangs quälte sie sich in Deutschland, erzählt sie. Seit ihr 14-jähriger Sohn Can im Sommer 2016 von einem rassistisch motivierten Attentäter getötet wurde, bereut sie es, jemals nach Deutschland gezogen zu sein. Sie fragt sich: Warum musste mein unschuldiger Sohn sterben? Warum haben die Behörden den Täter nicht vor oder während der Tat stoppen können? Warum war es für ihn so leicht, eine Waffe zu bekommen? Es sind Fragen, wie sie sich auch die Familien von Hanau heute stellen.

Die Opferfamilien durften nicht mitbestimmen, wer zum Gedenken kommen darf

In Hanau angekommen, verfolgen die Leylas die offizielle Gedenkveranstaltung auf einer Leinwand im Begegnungsraum der »Initiative 19. Februar«. Es sprechen der Bürgermeister von Hanau, Hessens Innenminister, die Bundesinnenministerin, die Angehörigen der Opfer. Auch die Leylas wären jetzt gern auf dem Friedhof von Hanau, wo die offizielle Gedenkveranstaltung stattfindet, würden den Familien gern Trost spenden. Aber das Land Hessen hat die Teilnehmerzahl auf 100 Personen beschränkt. Coronaauflagen. Die Familien durften bei der Auswahl der Gäste nicht mitbestimmen. Sie treffen sich deshalb später auf dem anderen Friedhof, in Dietzenbach.

Emiş Gürbüz hält eine kämpferische Rede. »Das Land Hessen hat unsere Gedenkstunde vereinnahmt«, sagt sie. »Dass ich als Mutter nicht entscheiden kann, wer an der Trauerfeier teilnehmen kann – diese Entscheidung wurde uns weggenommen.« Für diese Worte applaudieren ihr die rund ein Dutzend Menschen im Begegnungsraum. Auch Sibel und Hassan Leyla. Das Gefühl, dass die Politik sie selbst im Gedenken nicht ernst nimmt: Die Leylas kennen es gut.

Als ihr Sohn Can 2016 in einem Münchner McDonald’s erschossen wurde, war das Urteil von Medien und Behörden schnell und eindeutig: Amoklauf eines sich gemobbt fühlenden Jugendlichen. Dass der Täter in rechten Chatforen Hass auf Migranten und ihre Nachkommen schürte, dass er den Rechtsextremisten Anders Breivik bewunderte und seinen Anschlag auf den Tag genau fünf Jahre nach dessen Tat in Norwegen beging, ignorierten die Behörden. Über drei Jahre mussten die Leylas kämpfen, bis die bayerischen Behörden offiziell anerkannten, dass es sich bei der Tat um »politisch motivierte Kriminalität rechts« handelte, wie es etwas sperrig in der Sprache der Sicherheitsbehörden heißt.

Die Hinterbliebenen von Hanau und München wollen gemeinsam gegen Rassismus kämpfen

Bis heute fühlen sie sich von der Stadt München nicht ernst genommen. Ihre Anstrengungen, etwa im NS-Dokumentationszentrum in München einen Gedenkraum einzurichten, stoßen bei der Museumsdirektion und dem Kulturreferat auf kein Gehör, so berichten die Hinterbliebenen. An den Gedenktagen würden immer dieselben Worthülsen fallen: »Wir trauern mit euch, wir leiden mit euch.« Aber wenn die Leylas konkrete Wünsche formulieren, dann drehten die Verantwortlichen sich um und machten, was sie machen wollten – so sehen sie es.

Ein Bild von der offiziellen Gedenkveranstaltung auf dem Friedhof von Hanau, vorn der hessische Ministerpräsident Volker Bouffier, im Hintergrund Emiş Gürbüz

Ein Bild von der offiziellen Gedenkveranstaltung auf dem Friedhof von Hanau, vorn der hessische Ministerpräsident Volker Bouffier, im Hintergrund Emiş Gürbüz

Foto: POOL / via REUTERS

Im Begegnungsraum in Hanau versammeln sich nach der offiziellen Gedenkveranstaltungen einige der Opferfamilien. Es gibt türkischen Tee, Pide und Kuchen. Sibel und Hassan Leyla umarmen Nicolsecu Păun, den Vater von Vili Viorel Păun. Die Leylas wissen, wie schwierig Jahrestage sind, wie emotional, wie anstrengend. Sie wollen heute hier sein, um Kraft zu spenden.

Es ist nicht ihr erster Besuch in Hanau. Bereits nach der Gedenkveranstaltung zum Jahrestag des Anschlags von Halle waren sie auf Einladung der Familien hier. Haben gemeinsam gegessen, sich kennengelernt. Und auch zum fünften Jahrestag des Anschlags vom Münchner Olympia-Einkaufszentrum letzten Sommer kamen einige Familien aus Hanau nach München. Damals merkten die Leylas und Emiş Gürbüz, dass sie dieselbe Heimatstadt haben: Antakya. In Zukunft wollen die Familien von Hanau und München noch enger zusammenwachsen und gemeinsam gegen Rechtsextremismus kämpfen. Gemeinsam dafür kämpfen, dass in Zukunft niemand mehr ihr Schicksal erleiden muss.

Am Nachmittag sitzen Emiş Gürbüz und Sibel Leyla auf der Bank vor dem Grab von Sedat Gürbüz. Die beiden Mütter halten sich aneinander fest. Um sie herum stehen über hundert Menschen. Sie sind auf den Friedhof gekommen, um gemeinsam zu trauern. Um Sedat Gürbüz, um die neun Opfer von Hanau, aber auch um die über 200 Menschen, die laut der Amadeu Antonio Stiftung seit 1990 in Deutschland von Rechtsextremen getötet wurden.

Zum Abschluss des muslimischen Gottesdiensts streichen Leyla und Gürbüz sich übers Gesicht, sagen gemeinsam »Amin«. Amen. Sie teilen einen Moment, von dem Sibel Leyla später sagt, dass es keine Worte für ihn gebe. Man fühle einfach nur unendlichen Schmerz.

Anmerkung der Redaktion: In einer früheren Version des Textes waren die Anschläge von Rechtsextremist Anders Breivik fehlerhaft verortet. Wir haben die entsprechende Stelle korrigiert.

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