
Betroffene der Katastrophe: "Alle sind völlig aufgewühlt"
Japan und das Beben Die gefasste Nation
Hamburg - Sie gehen auf die Straße, geordnet, in Reihen, sie unterhalten sich ruhig, schauen zum Himmel. Beinahe würde man denken, auf dieser Straße, an diesem Mittag ist alles in Ordnung. Wenn nicht die Bilder völlig verwackelt wären, wenn die Erde nicht so heftig beben würde, dass es den Kameramann fast zu Boden wirft.
Die Bilder, die das japanische Fernsehen nach der Katastrophe sendet, zeigen anscheinend ruhige Menschen. Kein Schreien, kein Schimpfen, kein Zorn. Die Japaner wirken besonnen, nicht panisch. "Gegen Erdbeben, Blitz und deinen Vater kommst du nicht an", sagt ein altes japanisches Sprichwort.
Seit Jahrhunderten leben die Menschen auf dem Inselstaat mit dem Wissen, dass die Vulkane, die sie umgeben, jederzeit ausbrechen können, dass die Berge Feuer speien, die Erde bebt und die Lava alles überrollt. Sie leben mit dem Gefühl, dass das Leben ein flüchtiger Augenblick ist. Dem Tod sehen sie - anders als die Europäer - vergleichsweise gleichmütig entgegen.
"Das Beben hat die Menschen sensibilisiert"
"Die Auseinandersetzung mit Erdbeben hat in Japan eine lange Geschichte", sagt Gabriele Vogt, Professorin für Japanologie an der Universität Hamburg. Am 1. September 1923 bebte in der Kanto-Ebene die Erde, eine Feuerwalze brannte schließlich das nieder, was von Tokio und den umliegenden Städten übrig geblieben war. Mehr als 140.000 Menschen kamen ums Leben. Die eigene Verwundbarkeit wurde mit einem Schlag deutlich, ein Gefühl, dass das Leben auf den Inseln bis heute prägt. "Das Beben von damals hat die Menschen sensibilisiert", sagt Vogt.
Und es wirkt bis heute nach: Alljährlich proben die Japaner Anfang September den Ernstfall. Im gesamten Land gibt es Erdbebentrainings. Gefahrenzonen werden eingerichtet, Lastwagen transportieren die vermeintlich Betroffenen ab, Schulen, Gemeindezentren, aber auch Unternehmen machen mit. Was passiert bei welcher Erdbebenstärke? Wann suche ich Schutz unter dem Schreibtisch? Wann stelle ich mich in den Türrahmen, wann flüchte ich auf die Straße?
Der Ernstfall wird immer überraschend kommen, die Naturgewalten kann man nicht bezwingen, aber sie sollen die Menschen nicht unvorbereitet treffen.
Die Teilnahme am Erdbeben-Training ist nicht verpflichtend, doch die Arbeitgeber raten ihren Angestellten per E-Mail dazu mitzumachen. Der Rat wird als so bindend empfunden wie eine Dienstanweisung in deutschen Büros.
Der Gedanke an eine mögliche Katastrophe ist allgegenwärtig in Japan. Neben den Schreibtischen in den Büros liegen Helme, stehen Notfallrucksäcke, ausgeteilt vom Arbeitgeber, erzählt Vogt. Sie enthalten Decken, Seile, Handschuhe, Wasser, Bunsenbrenner. Alles ist so angelegt, dass die Menschen im Fall des Falles zwei bis drei Tage überleben können. Der Inhalt und die Haltbarkeit werden von den Chefs akribisch in Listen nachgehalten. Auch Privathaushalte haben die Rucksäcke. Für einen Single kosten sie rund 3000 Yen, rund 30 Euro. Seit den sechziger Jahren gehören sie zum japanischen Alltag, verkauft werden sie in Kaufhäusern und Baumärkten.
Das Leben läuft weiter in dem Bewusstsein, dass das nächste Beben schon bald passieren kann. Die Japaner sind widerstandsfähig.
"Es kommt, wie es kommt"
Das Beben von Kobe 1995 hat den Menschen gezeigt, wie verletzlich auch der Staat im Ernstfall ist. Die Hilfe erreichte die Japaner damals spät, zu spät. "Im Grunde war dies die Geburtsstunde der japanischen Zivilgesellschaft", sagt Japanologin Vogt. Die Menschen organisierten Hilfe auf lokaler Ebene, die japanische Mafia war es, die Suppenküchen einrichtete und die Menschen versorgte, wo staatliche Hilfe versagte. Die Politik wurde buchstäblich wachgerüttelt.
Der japanische Staat hat reagiert, im Falle des Bebens an diesem Freitag scheint der Krisenstab zu funktionieren. Und die Menschen tun es auch. "Ochitsuku" heißt das Prinzip, das einem Mantra gleicht. "Ruhig bleiben" lautet die Devise.
Vogt sagt, es sei der japanische Pragmatismus, der sich vor allem in Krisensituationen wie diesen offenbare. Keine Panik, kein kopfloses Umherirren, sondern Planung, Besonnenheit, Umsicht.
Als nach dem Beben in der 25-Millionen-Einwohner-Stadt Tokio der öffentliche Nahverkehr an diesem Freitag zusammenbrach, machten die Menschen nicht ihrem Ärger darüber Luft, dass die Bahnen nicht fuhren. Stattdessen stellten sie sich an den Bushaltestellen in Reihen auf, in der Hoffnung, dass wenigstens auf den Straßen der Verkehr noch lief. Als sich dies als Trugschluss erwies, machten sich Tausende zu Fuß auf den Heimweg, der oft Stunden dauerte. "In einer Stadt wie Tokio ist völlig klar, dass sich alle an die Spielregeln halten müssen, damit das Zusammenleben funktioniert", sagt Vogt, die selbst lange in Japan lebte.
"Shikata ga nai", sagen die Japaner, und sie sagen es oft. "Es kommt, wie es kommt." Die Umstände zwingen den Menschen diese Gelassenheit auf. Der Satz bedeutet aber auch - egal ob im privaten oder im politischen Kontext -, man versuche, das Beste aus einer Situation zu machen. Wenn man sie schon nicht ändern kann, dann sollte man wenigstens den Kopf nicht verlieren.
Die japanische Gesellschaft fuße auf einem Gegensatz: Das Private ist strikt vom öffentlichen Raum getrennt. Im Privaten, im "uchi", haben die Gefühle Platz, die nicht nach draußen gehören: Wut, Trauer, Freude. Der "soto"-Raum, die Öffentlichkeit, ist geprägt durch das Rationale.
Das haben die Menschen in Japan verinnerlicht, seit Jahrhunderten. Es mindert nicht die Angst vor Katastrophen, aber es kanalisiert den Ausdruck der Gefühle. Auch wenn die Erde wieder einmal bedrohlich bebt. "Nana-korobi, ya oki", lautet ein weiteres Sprichwort. "Siebenmal hinfallen, achtmal wieder aufstehen."