Thomas Fischer

Verkaufsschlager Justizversagen Richter Knallhart über dem Abgrund

Der Volkszorn bringt nicht nur dümmliche Antworten auf intelligente Fragen hervor, sondern auch verzweifelte Amtsrichter. Gut, dass es mutige Verlage gibt! Eine Rezension.
Foto: Uwe Anspach/ DPA

Erinnern Sie sich an Richter Gnadenlos, ein Wesen aus dem Zombie-Keller von "Bild Hamburg"? Der schillernde Containerbesucher und nachmalige Spätaussiedler schloss vorübergehend Freundschaft mit Ole von Beust, erschien als Wetterleuchten am Vorabend des Traumpaars Brandner/Weidel, verhedderte sich dann aber in Dümmlichkeiten. Das ist lange her, liebe Kinder, aber der Schreck steckt uns noch in den Knochen.

Nun könnte "Bild" einen legitimen Sprössling des großen Hamburgers gefunden haben: In Dinslaken, einer Stadt im Kreis Wesel bei Duisburg, fand sich am dortigen Amtsgericht ein "Knallhart-Richter", ein eisenharter Bursche. Der Riva-Verlag aus München hat die Gedanken des Richters am Amtsgericht Thorsten Schleif unter dem Titel "Urteil: Ungerecht" auf das Land geworfen (Thorsten Schleif, Urteil: Ungerecht, Riva-Verlag München 2019, 208 S., 19,99 Euro), nachdem im selben Haus schon Amtsrichter Stephan Zantkes Titel "Wenn Deutschland so scheiße ist, warum sind Sie dann hier?" schön lief.

Herr Schleif ist am Amtsgericht in Dinslaken für Schöffensachen, Strafrichtersachen Buchstaben A bis K und Jugendstrafsachen zuständig; eine Materie, die, wie er uns verrät, äußerst "simpel" ist und bei richtiger Grundeinstellung kaum Mühe macht: "Jeder Mensch - nicht nur ein Richter - muss einen Sachverhalt strafrechtlich beurteilen können" (S. 149). Leider wissen das die Bataillone von Versagern, Karrieristen, Schwachköpfen und Feiglingen nicht, von denen Knallhart-Richter Schleif umzingelt ist. Und das führt geradewegs, wohin es führen muss: "Die dritte Staatsgewalt steht einen Schritt vor dem Abgrund" (S. 195). Dieser Sound erinnert uns an Jens Gnisa, den Direktor des Amtsgerichts Bielefeld und Vorsitzenden des Deutschen Richterbunds (DRB), der 2017 mit dem Werk "Das Ende der Gerechtigkeit" (Herder Verlag, 288 S., 24,00 Euro) nach uns warf und sich ziemlich beleidigt zeigte, als ich ihn eher kritisch rezensierte.  Bei ihm trugen am Absturz bevorzugt die Rechtsanwälte die Schuld, während es bei Schleif die Richter sind. Ist aber ja auch irgendwie egal - Hauptsache der Untergang droht. Auch Patrick Burow, Amtsrichter in Dessau-Roßlau, lässt sich da nicht lumpen: "Justiz am Abgrund. Ein Richter klagt an" (Verlag LangenMüller, 2018, 208 S., 22 Euro).

Ohne Apokalypse kommt, so scheint es, der publizierende Amtsrichter nicht mehr aus, wenn er seiner traurigen Lage und des allgemeinen Stands der Dinge in Deutschland gedenkt: Zusammenbruch, Vertrauensdesaster, Qualitätsverlust, Ungerechtigkeit und Willkür allerorten, und die Justiz wird der Fluten nicht mehr Herrin! Da hilft - wir wissen es aus zahllosen Veröffentlichungen des Genres "Wie alles immer schlimmer wird" - nur "ein mutiger und schonungsloser Blick" (Klappentext) sowie das beliebte "Alarmschlagen": Ein Richter "deckt auf", "rechnet ab", "schlägt Alarm", "urteilt, dass die Justiz versagt", "packt aus", "trifft den Nerv der Zeit", "rechnet mit der Kuschel-Justiz ab", usw. usf. - das sind ein paar Kostproben von Medienüberschriften zum Werk des Dinslakener Terminators.

Das Alarmschlagen im 200-Seiten-Takt besorgten bis vor einigen Jahren traditionell eher Fahndungsprofis aus den Einsatztruppen von Kommissar Rainer Wendt ("Deutschland in Gefahr", Riva-Verlag 2017, 192 S., 9,99 Euro) oder Tania Kambouri ("Deutschland im Blaulicht. Notruf einer Polizistin", Piper Verlag 2015, 224 S., 10 Euro); auch originale "Staranwälte" wie Ingo Lenßen ("Ungerechtigkeit im Namen des Volkes", Verlag Gräfe & Unzer 2019, 192 S., 19,99 Euro) oder Burkhardt Benecken ("Schreiend ungerecht - Alltägliche Justizskandale in Deutschland", Riva-Verlag 2019, 304 S., 19,99 Euro). Aber Richter können das natürlich auch. Vor einigen Jahren wollten gleich mehrere Verlage mich mit folgendem (nicht erfundenen!) Angebot als Autor gewinnen: "Formulieren Sie irgendeine steile These und schreiben Sie 200 Seiten da entlang. Wir bringen das dann in Form. Das Buch können wir in drei Monaten machen."

Der Abgrund

Was möchte uns der mutige Amtsrichter aus Dinslaken sagen? Er steht, auf dem Buchcover und in der "BamS", in Robe, weißem Langbinder und mit Gerichtsakten unterm Arm vorm Portal des Amtsgerichts und starrt uns an, als wolle er gleich fragen, ob wir Probleme haben und eins aufs Maul brauchen. Das ist aber sicher nicht so gemeint. Ob es intelligent ist oder vielleicht ein bisschen dienstpflichtwidrig, demonstrativ in amtlicher Eigenschaft und geschmückt mit den Insignien der Justizmacht zu verkünden, die deutsche Strafjustiz sei auf ganzer Linie von Versagern beherrscht, lassen wir mal dahingestellt.

"Ein Richter deckt auf, warum unsere Justiz versagt", lautet der Untertitel. Herr Schleif, so erfahren wir, ist in der ordentlichen Justiz tätig, das sind Zivil- und Strafrecht. Den Rest nennt er "unordentlich", ein Klassiker, der auf jedem bunten Abend im Seniorenheim als Humorbombe durchgeht.

Bevor der Autor uns erzählt, ob und wie die Justiz versagt und woran er das erkannt hat, erzählt er uns erst einmal 138 Seiten lang, warum sie versagt. Der Grund ist einfach und jedem erfahrenen Querulanten vertraut: Die Justiz besteht - mit wenigen Ausnahmen, die sich zum Beispiel am Amtsgericht Dinslaken finden - ganz überwiegend aus Deppen, Schleimscheißern, Arschkriechern, Faulpelzen, Nichtskönnern und Feiglingen. Sagen wir's mit dem Autor: Neun von zehn Richtern, die "typischen" also, sind diszipliniert, haben ein großes Bedürfnis nach Bequemlichkeit, ein krankhaftes Verlangen nach Macht und einen ausgeprägten Mangel an Selbstbewusstsein (S. 113 ff., 121).

Hätten Sie gedacht, dass ein Jurastudium in Deutschland praktisch völlig nutzlos ist, weil es sich mit "Digestenexegese" statt mit dem Akteneinlauf von Amtsrichtern befasst? Ahnten Sie, dass man als Rechtsreferendar nichts, aber auch gar nichts Nützliches lernt und sogar zum Protokollführen missbraucht wird, was wirklich keinerlei Erkenntnisse über den Strafprozess vermitteln kann? War Ihnen bekannt, dass ein anständig arbeitender Amtsrichter - zum Beispiel in Dinslaken - pro Woche genauso viele Fälle erledigt wie ein Strafrichter am Landgericht in einem Jahr (nämlich zehn), und das, obwohl die Verfahren dort kein bisschen schwieriger sind (S. 145 f.)? Andererseits benötigen die Landgerichte "doppelt so lange" für ihre Verfahren wie die Amtsgerichte (S. 147). Wie immer man dieses mathematische Rätsel löst, bleibt doch, dass Strafrichter am Landgericht mindestens die Hälfte des Jahres einfach gar nichts arbeiten.

Sicher wollen Sie wissen, wo der Grund für diesen unglaublichen, der Öffentlichkeit seit Jahrzehnten unbekannt gebliebenen Skandal liegt: fast ausschließlich bei den faulen, ängstlichen, karrieregeilen Strafkammervorsitzenden, deren Fähigkeiten regelmäßig allein darin bestehen, Verfahren zu verschleppen, Entscheidungen hinauszuzögern und Belastungen vorzutäuschen (S. 149). Die monatelang komplett sinnlose, überflüssige Urteilsgründe mit 1000 Seiten Umfang "hinkritzeln", wo angesichts der Einfachheit des Strafrechts ein paar wenige Seiten reichen würden.

Noch schlimmer sind, das weiß der erfahrene 39-jährige Amtsrichter, die Vorsitzenden der Berufungskammern am Landgericht (S. 184 ff.). Sie entblöden sich nicht, die rundum richtigen Urteile von Richter Schleif auf Berufung von Angeklagten hin abzuändern. Selbstredend aus Wichtigtuerei, Feigheit vor dem Feind und mangelnder Souveränität. Und da die Anwendung von Strafrecht keine "juristisch-intellektuelle Herausforderung" stellt (S. 149), beschäftigen sich die überflüssigen Strafkammern damit, viele Stunden lang über die Frage zu "beraten", ob es in einem Urteil "weil" oder "da" heißen muss (S. 147).

Die Hölle

Es kommt noch härter: Richter Knallhart knöpft sich die Justizverwaltung vor, von der verflossenen Ministerin Müller-Piepenkötter, einer - nach Ansicht des Richters und zurückhaltend umschrieben - verlogenen Karrieristin, über die Präsidenten, Vizepräsidenten, Direktoren bis zu den "Präsidialrichtern", also Richtern, die vorübergehend mit einem Teil ihrer Arbeitskraft Verwaltungsaufgaben an den Gerichten wahrnehmen. Das ist eine Richter Schleif besonders verhasste Menschenart "angepasster Jasager", die Beurteilungsentwürfe schreiben, sich rund um die Uhr beim jeweiligen Präsidenten einschleimen und hoch qualifizierten Amtsrichtern, zum Beispiel am Amtsgericht Dinslaken, Beförderungsstellen wegschnappen, obwohl sie so viel Ahnung vom Recht haben wie ein Wurstfabrikarbeiter von der Chirurgie (S. 66).

Je länger man das Wutgeheul von Richter Schleif liest, der "dem Volk dienen will" (S. 201), daran aber seit seinem 14 Jahre zurückliegenden Übertritt von einer Großkanzlei in den Justizdienst (das Motiv bleibt im Dunkeln) böswillig gehindert wird, desto mehr steigt die Ahnung, es habe sich einst ein Amtsrichter aus Dinslaken, zeitweise abgeordnet zur Erprobung ans OLG Düsseldorf, auf eine seinem Genius gemäße Beförderungsstelle beworben, die ihm dann überraschenderweise nicht zuteilwurde. Auf Seite 116 ist es so weit: Der Held enthüllt uns, dass er gegen eine Beurteilung Klage erhoben habe. Denn "ich würde niemals meine Überzeugung für eine Beförderung verkaufen. Das unterscheidet mich von den meisten Richtern in der Gerichtsverwaltung."

So stürzt der Unbestechliche traumatisiert in den Abgrund. Auf dem bisherigen Sturzweg hat er gelernt, dass Behördenleiter erstens "überflüssig" sind (S. 68) und zweitens "meist ein sehr geringes Selbstwertgefühl haben" (S. 69). Man muss sie nur richtig anpacken: Als dem neu eingestellten Proberichter Schleif einst ein Referendar als Protokollführer zugeteilt werden sollte, sprach er: "Richten Sie dem Präsidenten aus: Wenn irgendjemand in diesem Gericht glaubt, mich einschüchtern zu können, dann unterschätzt er mich grundlegend." So kann man das machen.

Insgesamt kennzeichnet die Justizverwaltung, so Schleif, dass sie "keinerlei nennenswerte Arbeitsergebnisse" erzielt, also schlicht nutzlos ist. Das habe sie mit dem Deutschen Richterbund gemein, eine Berufsvertretung von Richtern und Staatsanwälten, genauer gesagt: "ein Haufen wehleidiger Jammerlappen" (S. 135) mit "krankhaftem Größenwahn" (S. 136). Vielleicht sind es solche Analysen, die Schleif und sein Verlag "mutig" nennen. Denn ansonsten kann man im Alarmbuch weit und breit nichts entdecken, was dieses Attribut verdienen könnte.

Der "Mut", den es erfordert, alle anderen für blöd, sich selbst für einen Helden und die Justiz für einen Haufen Versager "am Abgrund" zu halten, nähert sich unter dem Dauergeklapper ähnlich gestimmter Richter Gnadenlos und einer lautstarken Riege von Alarmfachleuten vom juristisch-intellektuellen Niveau der Herren Brandner und Meier eindeutig der Nulllinie. Will sagen: Ein Blick in Deutschlands "größte" Tageszeitung, ins Internet oder in die Aufdeckformate des TV reicht aus um festzustellen, dass wirklich kaum etwas so wenig Mut erfordert wie die Behauptung, in Deutschland herrsche das Rechtschaos, triumphiere die Kriminalität und könnten die Bürger kaum damit rechnen, den diesjährigen Weihnachtseinkauf unermordet, unausgeraubt und unvergewaltigt zu überstehen. Es zählt zu den großen Geheimnissen solcher Schreihälse, dass sie ihre angstschlotternde Panik als Höhepunkt von Mut ausgeben und das vermutlich auch noch selbst glauben.

Das Versagen

Damit sind wir, nachdem die Ursachen des Desasters erläutert wurden, beim Versagen selbst angekommen. Was ist es, das uns im Abgrund erwartet? Worin genau besteht das Versagen, das "immer schlimmer" wird, sich "beschleunigt", "kaum noch aufhaltbar" ist? Was ist geschehen, seit die Herrschaft des Unrechts über Deutschland hereinbrach wie die Heuschrecke über den Pharao und das Ausländerkind über die Grundschule?

Es sind Fehlurteile und Skandalurteile. Ein Fehlurteil ist, so Schleif, die Verurteilung eines Unschuldigen. Im Buch werden zwei erwähnt (Arnold und Mollath); die Ausbeute ist also eher mager. Allerdings darf auch hier Richter am BGH Ralf Eschelbach nicht fehlen, der von Schleif gleich zweimal zitiert wird mit dem Jahrzehntsatz, es seien "geschätzt 25 Prozent aller Strafurteile Fehlurteile". Nun neigt der Kollege Eschelbach, mit dem ich jahrelang im selben Senat des BGH saß, zwar gelegentlich zu überschäumenden Formulierungen, nicht aber zum Nonsens. Sein hundertfach fehlzitierter Satz betraf - so viel Quellenforschung darf sein - seine "Schätzung", wie viele Urteile "Rechtsfehler" (im Sinn von § 337 StPO ) enthielten, auf denen das Urteil aber nicht "beruht" - die sich also gar nicht ausgewirkt haben und die Richtigkeit des Ergebnisses daher nicht berühren. Seither wird der arme Eschelbach von Menschen, die keine Ahnung haben, als höchstrichterlicher Beleg dafür ins Feld geführt, dass in einem Viertel aller deutschen Strafurteile Unschuldige verurteilt oder Schuldige rechtswidrig bevorzugt werden. Das ist, kurz gesagt, dummes Zeug.

Aus "Skandalurteilen" besteht, wenn ich Richter Schleif richtig verstehe, ein großer Teil der Strafjustiz: Es sind Strafurteile, die so milde sind, "dass sie dem natürlichen Gerechtigkeitsempfinden von Juristen und Nichtjuristen gleichermaßen widersprechen", sodass auch fachkundige Juristen (z.B. Herr Schleif) "erhebliche Schwierigkeiten haben, sie im Ergebnis nachzuvollziehen" (S. 15).

Nun gut: Fachleute für das "natürliche" Gerechtigkeitsempfinden gab es zu allen Zeiten und an allen Orten in großer Zahl. Wenn Richter Schleif während des Studiums ein paar der "sinnlosen" Veranstaltungen zur Rechtsgeschichte besucht hätte, wüsste er aber, dass das so eine Sache ist mit der "Natur" und der "Gerechtigkeit" und dem "Gefühl". In der Praxis des mutigen Amtsrichters mag es zur Gerechtigkeit ausreichend erscheinen, auf das übliche Strafmaß immer 75 Prozent aufzuschlagen. Vielleicht ist das die Natur von Herrn Schleif. Er findet sicher auch eine Menge gerechte Nichtjuristen. Ob damit Dinslaken aus dem Abgrund herauskommt, bleibt aber trotzdem fraglich. Leider verwöhnt uns Richter Schleif nicht mit einer Statistik über seine herausragenden Bekämpfungserfolge.

Außerdem muss man sagen, dass auch die Natur ein gewisses Maß an Rechtskenntnis nicht ersetzen kann, selbst wenn das Volk von Dinslaken anderer Ansicht wäre. Wenn also Richter Schleif seitenlang stolz berichtet, wie er einmal, nachdem drei andere Gerichte einem von Schleif zuvor zu Bewährungsstrafe Verurteilten nach neuen Taten wiederum Bewährung gewährt hatten, eine Bewährungsaussetzung widerrief, weil der Verurteilte "gegen die Auflage verstoßen hatte, sich nichts mehr zuschulden kommen zu lassen", stutzt der Jurist, weil er von einer solchen "Auflage" noch gar nicht gehört hat. Ein Blick ins Gesetz zeigt, dass in § 56b StGB (Auflagen bei Strafaussetzung) davon nichts steht. Eine "Auflage, sich nichts zuschulden kommen zu lassen", ist nach dem Gesetz nicht nur unsinnig, sondern gar nicht zulässig: Die Bewährungsprognose setzt das sowieso voraus. Richter Schleif hat extra noch mal in der alten Akte nachgeschaut: "Mein Bewährungsbeschluss war eindeutig" (S. 176). Das mag sein. Allerdings wohl eher eindeutig falsch. So ist das manchmal mit der natürlichen Gerechtigkeit.

Ansonsten kommen die üblichen fünf "Skandal"-Geschichten, die man aus der Presse der letzten Jahre kennt. Allerdings mit speziellem Dinslakener Touch: "Was denkt jemand, der mit hochgetunten Fahrzeugen in der Innenstadt ein Rennen fährt? Denkt er: Es wird schon gutgehen? ... Oder denkt er: Ist mir doch scheißegal? Was meinen Sie, was so ein Rennfahrer denkt? Ach, wie interessant! Das meine ich auch" (S. 161). Wir erleben hier Richter Knallhart, Schwurgerichtsvorsitzender in Fantasialand, bei der naturgestützten Beweiswürdigung im Mordprozess! Wer braucht Beweise, wenn er eine Überzeugung hat?

Auch schön: Harald, Mitte 40, gibt zwei 14-jährigen Mädchen "eine kleine Menge Marihuana". Außerdem ist er noch ein unmoralischer SM-Freund, tut insoweit allerdings nichts Verbotenes. Für das Abgeben von BtM an Minderjährige stellt Richter Schleif in Aussicht: Dreieinhalb Jahre Freiheitsstrafe. Es stellt sich heraus: Harald wurde vom zuständigen Gericht zu 90 Tagessätzen Geldstrafe verurteilt. "Ist Ihnen gerade das Buch aus der Hand gefallen?", fragt Schleif (S. 167). Es zählt zu den ganz großen Mutbeweisen des Strafrechts, Fälle anderer, bei deren Verhandlung man gar nicht dabei war, nachträglich probeweise noch mal neu und diesmal richtig zu entscheiden. Normalerweise erledigt das eine Freiwilligenarmee von Leserbrief- und Twitterschreibern, aber Schleif kann das auch.

Und so geht's dann weiter und dahin: Kuscheljustiz, butterweiche Urteile, versagende Feiglinge, wohin des knallharten Richters Auge fällt. Lösung: Verwaltung abschaffen, Berufung abschaffen, die richtigen Leute befördern (insb. in Dinslaken). Der Rest von Schleifs mutigen Forderungen ist aber DRB-tauglich. Vielleicht hat das gewählte Präsidium seines Gerichts ja mal ein Einsehen und teilt ihm eine Aufgabe zu, die seinem juristisch-intellektuellen Horizont entspricht.

Was soll's?

Das besprochene Werk ist nur ein Beispiel, eher ein Symptom, wenn auch ein ungewöhnlich deutliches. Es ist, wie andere seiner Art, nicht durchweg "falsch". Selbstverständlich gibt es in der Strafjustiz Schwachstellen, strukturelle Missverständnisse und Fehlentwicklungen. Sie sind weder brandneu, noch haben sie explosionsartig zugenommen, wie oft behauptet wird. Vor allem aber sind sie nicht ansatzweise so schlicht und eindimensional, dass man sie mit ein paar steilen Thesen und 200 Seiten Geschimpfe darstellen, erklären oder lösen könnte. Wäre es so, könnte es ja jeder, sogar Richter Schleif. Es ist immer wieder erstaunlich, dass Menschen mit "Analysen" oder "Lösungsvorschlägen" hervortreten, die so primitiv und einfach sind, dass selbst der Unkundigste sie bei flüchtigem Blick sofort durchschaut und anwenden könnte.

Leider besteht kein Zweifel daran, dass auch dieses "Alarm"-Geschrei wieder Gläubige finden wird, die uns auf allen Kanälen mitteilen, dass man nur Richter Schleif oder besser noch sie selbst mal ranlassen müsste, damit wieder eine Ordnung ist in Deutschland. Egal wie hoch die Strafdrohungen, wie lang die Strafen, wie uferlos die Strafgesetze und wie weit die Polizeibefugnisse werden: Der Abgrund wird immer tiefer gähnen, vor dem sich die Jünger des "mutigen Blicks" so sehr fürchten. Ihr etwas einfältiges Geschrei kommt einem vor wie der Vorschlag, die Anzahl der Autounfälle und der Verkehrstoten dadurch zu reduzieren, dass einfach alle schneller fahren: Dann sind sie schon weg, bevor der Unfall passiert.

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