Kinder unter Leistungsdruck "Das Schlimmste sind die Eltern"

Krippenkinder sollen Englisch lernen, Eltern lauern Lehrern auf, um über Noten zu diskutieren: Wenn es um das vermeintliche Wohl ihrer Sprösslinge geht, sind Mama und Papa manchmal nicht zu stoppen. Pädagoginnen berichten vom Alltagswahnsinn an Schulen und in Kitas.

Hamburg - Sie wollen nur das Beste für ihre Kinder - und schießen häufiger übers Ziel hinaus: Bei der Bildung ihrer Sprösslinge geben sich viele Eltern kompromisslos. David und Marie sollen schließlich optimal gefördert werden. Dafür verlangen Eltern viel von Kindertagesstätten und Schulen.

Wenn sich die Kleinen dann langsamer als gewünscht entwickeln oder ihre Leistungen nicht den Erwartungen von Mama und Papa entsprechen, wächst der Druck. Jedes vermeintliche Defizit ist ein potentieller Grund für Hysterie, jede schlechte Note ein Drama.

Unter dem Druck leiden die Kinder ebenso wie das Klima in Kitas und Schulen. Und Eltern nehmen auch Personen, die den Kleinen bei ihrer Entwicklung helfen sollen, ins Visier. Dann müssen sich Erzieher rechtfertigen, warum Anderthalbjährige noch Windeln tragen und Lehrer werden wegen vermeintlich zu harter Zensuren in die Zange genommen.

SPIEGEL ONLINE hat Personen gefragt, die bei ihrer Arbeit an Schulen und in einer Kindertagesstätte mit allzu ehrgeizigen Eltern konfrontiert sind - und protokolliert, welchen Druck Mama und Papa ausüben.

Kita - "Musikalische Früherziehung klingt halt viel besser als Singen"

Kleinkinder beim Musikunterricht: Hauptsache Förderung

Kleinkinder beim Musikunterricht: Hauptsache Förderung

Foto: Corbis

Mitarbeiterin im Leitungsteam einer Kindertagestätte, Hamburg

Wir müssen uns immer wieder gegenüber überambitionierten Eltern rechtfertigen. Die beschweren sich nach Hospitationen, weil das, was sie gesehen haben, nicht genug nach Lernen aussieht. Manche sagen: "In der Vorschule gibt es zu wenig Hausaufgaben." Ein Vater hat gemeckert, weil Ausflüge auf Spielplätze und nicht in Parks oder ins Planetarium gingen. Dabei ist es viel wichtiger, dass Kinder erst mal ihren Stadtteil kennenlernen.

Freies Spiel mögen viele Eltern gar nicht. Aber Sachen wie Herumtollen, Rennen, Springen und auch mal Hinfliegen sind enorm wichtig für die Entwicklung von Kindern. Die Eltern sagen nur: "In der Zeit könnte man Zahlen oder Englisch lernen." Die wollen Bildung von Anfang an und verkennen, dass Spielen Lernen ist.

Selbst Eltern, die Krippenkinder anmelden, fragen oft: Wie oft findet Vorschule in der Woche statt? Wie viele Kinder sind in der Vorschulklasse? Welche Fächer werden angeboten? Bei Anmeldungen kommen auch regelmäßig Fragen nach Angeboten. Wenn ich dann den normalen Kita-Alltag mit Spielen, Essen und Basteln schildere, fragen die nach Fremdsprachenangeboten und Lesenlernen.

Überforderung ist auch ein Riesenthema. Nicht jedes Kind muss mit anderthalb schon trocken sein und mit zwei stundenlang stillsitzen und zuhören können. Aber Eltern monieren häufig, dass die Kinder gewisse Dinge - mit der Schere eine gerade Linie schneiden oder Schuhe zubinden - noch nicht können. Die Eltern vergessen, dass die Kinder Zeit haben, das zu lernen, bis sie sechs sind.

Natürlich passen wir unser Angebot an, weil es gefordert wird. Selbst bei Null- bis Dreijährigen werden dann englische Wörter benutzt, weil die Eltern das wollen. Und wir bieten "musikalische Früherziehung" an. Das klingt halt besser als wenn man sagt, wir haben heute in der Kita gesungen.

Wie viele Eltern Leistung und Bildung über alles stellen, zeigt sich auch daran, dass wir immer häufiger gefragt werden, ob ein Kind hochbegabt ist. Das ist so gut wie nie der Fall. Viele Eltern bezweifeln das Testergebnis und suchen Ausflüchte: Das Kind kannte die Erzieherin nicht, es hatte an dem Tag schlecht geschlafen. Manche gehen zu einem Kinderarzt und lassen einen neuen Test machen.

Die Eltern begreifen nicht, was sie mit diesem Druck anrichten. Manchmal fragen sie, warum ihr Kind nachts einnässt. Wenn ich nachhake, kommt heraus, dass sie mit dem Kind den ganzen Tag auf Achse waren - vom Spanischkurs zum Fußball und abends noch das Lernprogramm auf dem Computer. Die Kinder sind dann einfach gestresst, todmüde und in der Kita zu nichts mehr zu gebrauchen.

Das Schlimme ist, dass trotz vermehrter Angebote in Kitas die Zahl an Verordnungen für Therapien wie Ergotherapie oder Logopädie stark steigt. Das hat auch damit zu tun, dass Eltern sofort intervenieren, wenn sie ein vermeintliches Defizit feststellen. Die wollen Rückstände wegtherapieren lassen, damit ihr Kind ja nicht den Anschluss verliert.

Grundschule I - "Viele Eltern können ihre Kinder nicht einschätzen"

Schüler-Alltag: Im Gymnasium wartet großer Leistungsdruck

Schüler-Alltag: Im Gymnasium wartet großer Leistungsdruck

Foto: Corbis

Lehrerin an einer Grundschule, Baden-Württemberg

An meiner Schule haben wir zum Glück nur wenige Eltern, die mit überzogenem Ehrgeiz und Sonderwünschen unsere Arbeit erschweren. Die ist auch so schwierig genug, weil die Schüler so unterschiedliche Leistungsniveaus haben. Es bringt mich an meine Grenzen, den schlechten Schülern zu helfen, ohne die guten dabei zu unterfordern. Das ist jeden Tag ein Balanceakt, der insbesondere in größeren Klassen kaum zu leisten ist.

Unabhängig davon, ob Eltern sich gar nicht oder übermäßig engagieren, nehmen sie quasi jedes Angebot jenseits des normalen Stundenplans gerne an. Egal ob Chor, Zirkusgruppe, Fußball-AG oder Basteln - manche haben den Standpunkt, da ist mein Kind versorgt, und manche erhoffen sich besondere Förderung.

Viele Eltern sind von Angst und Unwissenheit getrieben. Hat mein Kind eine Schwachstelle, verpasst es den Anschluss? Deswegen werden Kinder teilweise mit Förderangeboten überhäuft - paradaroxerweise leidet darunter dann manchmal die schulische Leistung. Ich habe nicht nur einmal gehört, dass Schüler gesagt haben: "Ich konnte meine Hausaufgaben nicht machen, weil ich zum Sport oder zur Musikschule musste."

Um Überforderung und Überförderung zu vermeiden, müssen Eltern ihr Kind richtig einschätzen können. Viele können das aber nicht. Das führt dazu, dass Kinder zum Beispiel möglichst jung eingeschult werden. Viele Eltern setzen Schule mit Lernen gleich. Es mag ja sein, dass ein Kind kognitiv schon in der Lage ist, den Lehrplan zu meistern. Aber oft sind die Kleinen emotional und sozial noch nicht soweit, den Schulalltag zu bewältigen.

Besonders deutlich - das weiß ich von Kollegen - sind Fehleinschätzungen, wenn es in der dritten und vor allem vierten Klasse um die Empfehlung für die weiterführende Schule geht. Da gibt es immer wieder Eltern, die keine Ahnung haben, was es für ihr Kind bedeutet, wenn es aufs Gymnasium geht, welcher Leistungsdruck dort wartet.

Diese Leute denken einfach: Gymnasium gleich Prestige und guter Umgang, Hauptschule gleich schlechter Umgang. Und die wollen ihr Kind dann auf Teufel komm raus aufs Gymnasium bringen und kämpfen das notfalls mit allen Mitteln durch.

Grundschule II - "Es muss Gymnasium sein!"

Junge im Klassenzimmer: "Das Schlimmste sind die Eltern!"

Junge im Klassenzimmer: "Das Schlimmste sind die Eltern!"

Foto: Corbis

Lehrerin einer dritten Klasse, Rhein-Neckar-Kreis

Letztes Schuljahr fuhr ich an einem Nachmittag direkt von der Schule nach Hause. Vor meinem Gartenzaun wartete ein Kombi, darin saßen die Eltern einer Schülerin, dritte Klasse. Ein Ehepaar, das zu jedem Elternabend gemeinsam erscheint, das mich auch außerhalb der Schulsprechstunden mehrmals im Monat abends anruft. Ein Ehepaar, dem nichts zu entgehen scheint, was seine Tochter, ein intelligentes, aber verängstigtes Kind, tut.

Was sie tun müssten, damit ihr Kind auf alle Fälle aufs Gymnasium komme, fragten sie mich und ließen sich nicht davon abbringen, auf die Schulempfehlung aktiv einzuwirken. Ob das Mädchen Nachhilfe brauche, ob sie ein zweites Instrument erlernen solle, ob Englisch als Fremdsprache bislang ausreiche - das Problem sei nämlich, dass die Kleine "keine Probleme" bereite. "Vielleicht ist gerade das das Problem?", sorgte sich der Vater. Nicht, dass es dann ausgerechnet kurz vor dem Schulwechsel Probleme gebe, die man schon jetzt verhindern könnte.

Ich bin seit mehr als zehn Jahren Grundschullehrerin. Wenn Freunde sagen: "Mit all den Kindern - das könnte ich nie!" Dann antworte ich immer: "Das Schlimmste sind die Eltern!" Es wird zunehmend anstrengend, den Ansprüchen der ehrgeizigen Erziehungsberechtigten gerecht zu werden. Ab der dritten Klasse erhöht sich der Druck zunehmend. Nur wenige akzeptieren anstandslos Empfehlungen für die Realschule, Hauptschul-Vorschläge werten die meisten als Kampfansage. Folglich werden viele Kinder mit Beginn der dritten Klasse auf Leistung getrimmt. Es muss Gymnasium sein!

Kinder spüren den unausgesprochenen Zwang, er konzentriert sich nicht nur auf ihre schulischen Leistungen, er beeinflusst auch immens ihre Freizeit: Eltern greifen mehr denn je in die Auswahl der Freunde ein. Kontakt mit Kindern, denen das Lernen schwer fällt, ist unerwünscht und wird gern unterbunden. Guten Schülern, gar Strebern, spendieren ehrgeizige Eltern gern einen Wochenendausflug, um die Freundschaft zu vertiefen. Empathie und Sympathie kommen oft erst an zweiter Stelle. Wir versuchen, solche Fehler von Eltern in der Schule zu kitten. Aber alles können wir nicht ausbügeln.

Das Mädchen, deren Eltern mir auflauerten, ist seit Beginn dieses Schuljahres Klassenbeste. Dem Wechsel auf ein Gymnasium steht weiterhin nichts im Weg. Ihre Eltern rufen trotzdem ständig bei mir an. Ich denke, sie werden mich mindestens noch einmal vor meiner Haustür abpassen.

Waldorfschule - "Sie müssen Querflöte, Ballett, Reiten und Stepptanz können"

Kind im Ballettröckchen: Eltern nach außen lässig, nach innen ehrgeizig

Kind im Ballettröckchen: Eltern nach außen lässig, nach innen ehrgeizig

Foto: Corbis

Lehrerin an einer Waldorfschule, München

Viele meiner Schüler haben seit frühester Kindheit Erfahrung mit Anthroposophie, weil sie bereits Waldorfkindergärten besucht haben. Ich selbst war ebenfalls auf einer Waldorfschule und halte die von Rudolf Steiner begründete Weltanschauung gerade für Kinder in der heutigen Zeit eigentlich für sinnvoll - vor zu ambitionierten Eltern schützt sie allerdings nicht. Manchmal gewinne ich den Eindruck, gerade Eltern, die sich für diese besonderen Schulen entschieden haben, haben mit ihren Kindern ganz besonders Großartiges vor.

Immer wieder staune ich, was den Kleinen abverlangt wird: Sie müssen Querflöte, Ballett, Reiten und Stepptanz können, am besten noch zwei Fremdsprachen fließend beherrschen und auch in Mathematik und Geografie ein Ass sein. Wenn man diese Eltern aber fragt, wie das gehen solle, zucken sie mit den Schultern oder verlieren sich in Rechtfertigungsmonologen, dass man den Kindern doch auch mehr bieten müsse, weil man selbst nicht die Chance gehabt habe.

Ich habe viele Eltern kennengelernt, die sich nach außen hin um ein besonders cooles, lässiges Image bemühen (viele sind Künstler, Schauspieler oder einfach nur "Lebenskünstler"), aber in Gesprächen mit Lehrern diese Fassade nicht aufrechterhalten können: Sie wollen ihren Kindern nicht nur besonders Großartiges bieten, die Kinder sollen gefälligst auch besonders Großartiges daraus machen.

Somit wird in den Zeugnissen, die bis zur achten Klasse ohne Jahresabschlussnoten erstellt werden, meistens zwischen den Zeilen gelesen. Viele Eltern kommen mit den schriftlichen Beurteilungen zu uns Lehrern und haken nach - warum, wieso, weshalb. Mehrfach wurden wir Lehrkräfte aufgefordert, gewisse Formulierungen zurückzunehmen oder nicht zu wiederholen.

Einmal schrie eine Mutter hysterisch herum: "Ich will nicht, dass mein Kind so negativ beschrieben wird! Ich will ein positives Kind!" - Ein Satz, der für mich die aktuelle Eltern-Generation richtig charakterisiert: Eltern, selbst die, die sich für eine Waldorfschule entschieden haben, wollen positive, gelungene, funktionierende, leistungsstarke Kinder. Was die Kinder wollen, ist zweitrangig.

Gymnasium - "Manche Eltern sind beratungsresistent"

Mädchen bei Hausaufgaben: "Kinder haben das Leistungsprinzip total verinnerlicht"

Mädchen bei Hausaufgaben: "Kinder haben das Leistungsprinzip total verinnerlicht"

Foto: Corbis

Gymnasiallehrerin für Fremdsprachen, Baden-Württemberg

Überehrgeizige Eltern belasten das Schulklima. Die sollten sich viel mehr raushalten. Aber sie üben ständig Druck aus, auf ihre Kinder und auf uns Lehrer. Das beginnt in der Unterstufe und wird mit zunehmendem Alter schlimmer. Ich beobachte das schon bei Fünft- oder Sechstklässlern, die in mehreren Fächern Nachhilfe haben. Die sind für das Gymnasium nicht geeignet, aber die Eltern wollen unbedingt Abitur für ihr Kind.

Damit wir uns nicht falsch verstehen: Ich finde es gut, wenn Eltern ihren Kindern helfen, wenn sie Hilfe möchten. Aber man kann es übertreiben. Ich hatte einen Schüler, der sehr gut war. Sein Vater hat mir mal schriftlich versichert, er kontrolliere die Vokabelkarten seines Sohnes jeden Tag. In den letzten zwei Wochen der Sommerferien wurde der Stoff des letzten Schuljahres wiederholt.

Und das ist noch harmlos. In der Mittel- und Oberstufe geht es ans Eingemachte. Eine Schülerin hatte schon einmal eine Klasse wiederholt. Zwei Tage vor der Zeugniskonferenz riefen ihre Eltern am Sonntagabend bei meiner Kollegin an, welche Note ihre Tochter bekomme. Man müsse auch ihren Gesundheitszustand berücksichtigen. Das Mädchen war in der Schule mehrmals umgekippt. Die haben überhaupt nicht gemerkt, dass die vermeintliche Ursache der schwachen Leistungen eigentlich Symptom ihres Riesendrucks ist. Die waren absolut beratungsresistent.

Es gibt auch Fälle, in denen der Druck der Eltern so groß ist, dass Schüler psychisch krank werden. Ein Kind hatte wegen des ungeheuren Drucks von zu Hause sogar Selbstmordgedanken.

Besonders kritisch wird es, wenn ich merke, dass die Eltern mitgeholfen haben. Einer Schülerin habe ich mal für ein Referat eine schlechtere Note gegeben, als sie erwartet hatte. Am Elternsprechtag wollten beide Eltern die Note nach oben geändert haben. Ihre Tochter habe den Vortrag zu Hause geübt. Da dachte ich echt, ich falle vom Stuhl. Ich habe die Note so gelassen. Die Eltern waren für die restliche Schulzeit des Mädchens mit mir beleidigt.

Die Kinder haben das Leistungsprinzip total verinnerlicht. Letztlich geht es nur um Noten, besonders in der Oberstufe. Die Schüler feilschen um jeden Punkt, vergleichen sich ständig. Da gibt es innerhalb von Klassen Rivalitäten wie im Kindergarten. Und immer kommt die Frage: "Wird das benotet?" Das nervt.

Ein Schüler blieb mal wegen seiner Englischnote sitzen. Da haben die Eltern einen Anwalt eingeschaltet. Meine Kollegin musste ganz genau darlegen, warum der Schüler diese Note bekommen hatte. Solchen Ärger will keiner haben, ich auch nicht. In so einem Fall gibt man dem Schüler vielleicht im Zweifel eine halbe Note besser, um den ganzen Stress zu vermeiden und sich nicht angreifbar zu machen. Dass dadurch gute Noten inflationär werden, merken viele Eltern nicht. Ich sage so oft: "Wissen Sie, man muss nicht in jedem Fach eine eins haben."

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