Kindesentziehung "Wenn das Leben plötzlich stillsteht"

Kindesentzug: Alptraum einer Mutter
Hamburg - Als das Telefon an jenem 10. August klingelt und sie abnimmt, hofft Rosina P., ihr Ex-Mann würde ihr endlich sagen, wann er mit Senah zurück nach Deutschland kommt. Doch das tut er nicht. Im Gegenteil. Der Anruf ist der Beginn eines Alptraums, der für die Mutter bis heute anhält: Ihre Tochter Senah ist weg, vom eigenen Vater in dessen Heimatland "entzogen".
Das Verschwinden der Achtjährigen, das SPIEGEL TV Magazin rekonstruiert hat (RTL, 22.25 Uhr), ist nur ein Fall von mindestens 500 im Jahr, die im Amtsdeutsch nüchtern "Kindesentzug" genannt werden.
"Er sagte, er werde im Libanon bleiben und Senah bei sich behalten. Wenn ich zur Polizei ginge, würde ich sie nie wiedersehen", erinnert sich Rosina P. im Gespräch mit SPIEGEL TV an das Telefonat und kämpft mit ihren Tränen. Viel mehr weiß sie heute nicht mehr von diesem Tag. Sie brach zusammen damals. Schemenhaft hat sie noch den Rettungswagen vor Augen, der sie ins Krankenhaus fuhr.
Die Mutter stand unter Schock. Gefühlszustände wechselten sich ab, Verzweiflung, Wut, Trauer und Angst um ihre Tochter. "Ich konnte nichts mehr essen, nicht mehr schlafen, nichts mehr. Es war, als wenn das Leben plötzlich stillsteht." Ihre Gedanken kreisten nur noch um eine Frage: "Wie bekomme ich Senah zurück?"
Die Lippstädterin suchte Hilfe bei der Polizei, bei Behörden. Vergeblich. "Die haben alle gesagt, man könne nichts machen." Wut stieg in ihr auf. "Ein Kind verschwindet einfach so aus Deutschland, und niemand tut etwas."
Rosina P. wollte nicht aufgeben. Sie konnte nicht, um ihrer Tochter willen. Sie informierte sich, durchforstete das Internet, telefonierte und fand schließlich die "Initiative Vermisste Kinder". Die Organisation unterstützt die Mutter bis heute. "Betroffene fühlen sich in diesen Fällen ganz oft völlig allein gelassen etwa von staatlichen Stellen", berichtet Lars Bruns von der Initiative.
"Es war furchtbar, allein nach Hause zu kommen"
Rosina P. kämpfte weiter, sie entschloss sich, auf eigene Faust dorthin zu gehen, wo sich ihre Tochter befindet: in den Libanon.
Beirut im Januar: Die Lippstädterin ist bereits das zweite Mal hier. Schon im Herbst hatte sie von hier aus versucht, Senah zurückzuholen. Doch es misslang. Verzweifelt und mit ihren Kräften am Ende reiste sie nach Deutschland zurück. "Es war furchtbar, alleine nach Hause zu kommen."
Nun startet sie einen zweiten Anlauf. Doch die Situation vor Ort ist für die gebürtige Italienerin denkbar schwierig. Die Behörden zeigen sich nicht besonders engagiert, der Mutter zu helfen. Wie in vielen anderen Fällen von Kindesentzug auch liegt das Problem in den unterschiedlichen Gesetzen der jeweiligen Länder und fehlender Zusammenarbeit. So besteht zwischen Deutschland und dem Libanon kein Rechtshilfeabkommen für derartige Fälle.
Für Rosina P. bedeutet das im Klartext: Niemand kann ihren Ex-Mann Hassan zwingen, die gemeinsame Tochter herauszugeben. Als muslimischer Vater hat er im Libanon das alleinige Recht, über sein Kind zu bestimmen.
Eigentlich wollte der gebürtige Libanese, der seit seiner Kindheit in Deutschland lebte, im Sommer nur seine Eltern besuchen. Rosina P. stimmte damals zu, dass Senah ihren Vater begleitete. "Sie hatte sich so darauf gefreut, Oma und Opa kennenzulernen. Das wollte ich ihr nicht nehmen", erinnert sich die Lippstädterin. Außerdem hatten beide Eltern bei der Scheidung das Sorgerecht vom Gericht erhalten. Ihr Ex-Mann habe sich eine Zeit lang gut um die Kleine gekümmert. Grund zur Sorge hatte sie daher vor der Reise der beiden nicht, wie sie sagt.
"Ich weiß, dass sie leidet"
Obwohl Rosina P. nun wieder im Libanon ist, kann sie nicht zu ihrer Tochter. Senah lebt bei der Familie ihres Vaters im Süden des Landes. Die Region an der Grenze zum verfeindeten Israel ist militärisches Sperrgebiet und zugleich Machtbereich der Hisbollah. "Senahs Vater weiß ganz genau, dass ich dort nicht hinkommen kann. Deswegen ist er mit der Kleinen dahin gezogen", ist sich die Lippstädterin sicher.
Immerhin kann sie ab und zu mit ihrer Tochter telefonieren. "Es geht ihr nicht gut, sie zeigt es zwar nicht, weil der Vater unsere Gespräche mit anhört. Aber ich weiß, dass sie leidet." Die Telefonate mit der Kleinen seien ganz wichtig, machten sie aber auch unsäglich traurig. "Wenn ich dann zu ihr so etwas sage wie, ich vermisse dich, legt er gleich auf, das darf ich nicht", erklärt Rosina P. und beginnt zu weinen.
Alles Bitten und Flehen, das Kind wieder nach Deutschland zu lassen, konnten den Vater nicht umstimmen.
Selbst als es im Herbst im Libanon unter Vermittlung örtlicher Behörden und Diplomaten zu Verhandlungen mit ihm kam, lehnte er alles strikt ab. Immerhin: Ein Mufti, ein religiöser Rechtsgelehrter, ordnete damals an, dass Rosina P. ihre Tochter sehen durfte. "Es war schön, sie endlich wieder in die Arme zu nehmen", berichtet die Mutter. Doch es war ein Wiedersehen nur für wenige Stunden. Dann nahm der Vater die Tochter wieder mit.
Das letzte Mal sah sie Senah vor mehr als drei Monaten.
"Dem Mann wurde eine goldene Brücke nach Deutschland gebaut, indem man ihm sogar eine straffreie Rückkehr angeboten hatte", beschreibt Lars Bruns von der Organisation "Vermisste Kinder" die damalige Verhandlungssituation. Dass Hassan L. abgelehnt habe, sei typisch für derartige Fälle. Es sei schon vorgekommen, dass Väter Gefängnisstrafen wegen Kindesentzugs in Kauf nahmen, statt die Kinder zurückzugeben.
Rosina P. ist noch immer im Libanon. Zuletzt war auch der telefonische Kontakt zu ihrer Tochter abgebrochen. "Nach Deutschland zurückkehren und einfach ohne Senah weiterleben? Das kann ich nicht." Die Mutter will stark sein - sie sagt sich das immer wieder selbst, unterdrückt dabei die Tränen.
Stark sein für ihre Tochter.