Prognose für 2060 Christliche Kirchen werden die Hälfte ihrer Mitglieder verlieren

Die Kirchen in Deutschland werden in den kommenden Jahrzehnten etliche Millionen Mitglieder verlieren. Auch das Geld wird knapper. Wie wollen die Kirchenoberen darauf reagieren?
Osnabrücker Dom

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Foto: Friso Gentsch/ dpa

Es wird derzeit viel geschimpft auf die Kirchen in Deutschland. Missbrauchs- und Finanzskandale haben das Vertrauen der Gläubigen ausgehöhlt, die vom Staat eingetriebene Kirchensteuer steht in der Kritik. Und nur wenige verstehen, warum der Staat die Kirchen aufgrund von Enteignungen im 19. Jahrhundert im großen Stil bezuschusst - allein im vergangenen Jahr mit 520 Millionen Euro.

Umso mehr verwundert es, dass - trotz periodischer Austrittswellen - immer noch mehr als die Hälfte der Deutschen Mitglied in einer der beiden großen christlichen Kirchen ist und ihnen saftige Steuereinnahmen beschert - allein 2018 waren es 11.838.000.000 Euro.

Doch wird das in Zukunft so bleiben? Daran scheinen selbst die Kirchenoberen Zweifel zu haben. Die katholische und die evangelische Kirche haben bei Forschern der Freiburger Albert-Ludwigs-Universität eine Prognose in Auftrag gegeben. Wie werden sich die Mitgliederzahlen langfristig entwickeln, und was bedeutet das für die Einnahmen aus der Kirchensteuer? Die Ergebnisse liegen nun vor - und sie sind für Katholiken und Protestanten dramatisch.

Demnach werden die Mitgliederzahlen beider Kirchen bis 2060 um etwa die Hälfte zurückgehen, von insgesamt 44,8 auf 22,7 Millionen Männer und Frauen. Grund dafür sind Sterbefälle und Kirchenaustritte, aber auch geburtenschwache Jahrgänge, die nachrücken. Die Babyboomer-Jahrgänge gehen in Rente, die sinkende Zahl der Kirchensteuerzahler wird dazu führen, dass die Einnahmen nicht im gleichen Maße wachsen wie die Ausgaben.

In die Prognosen eingeflossen sind Daten des Statistischen Bundesamtes zu Mortalität, Fertilität und Migration. Die Kirchen stellten Zahlen zu Taufen, Kirchenaustritten und -eintritten in den 20 evangelischen Landeskirchen und 27 katholischen Bistümern zur Verfügung.

Sowohl im überwiegend protestantischen Norden und Osten der Republik als auch im mehrheitlich katholischen Westen und Süden werden die Kirchensteuereinnahmen 2060 nur für die Hälfte der 2017 möglichen Ausgaben reichen. Um sich im Jahr 2060 den gleichen kirchlichen Warenkorb leisten zu können wie 2017, bräuchten die Kirchen knapp 25 Milliarden Euro - sie werden aber den Berechnungen zufolge nur 12 Milliarden zur Verfügung haben.

"Die Ergebnisse haben wir im Grunde so erwartet", sagt der Projektleiter, der Wirtschaftswissenschaftler Bernd Raffelhüschen. Neu sei die Erkenntnis, dass der demografische Wandel nur für weniger als die Hälfte des Mitgliederrückgangs verantwortlich sei. "Einen größeren Einfluss haben das Aus- und Eintrittsverhalten der Kirchenmitglieder sowie die Taufen." Die Kirchen seien also nicht ausschließlich einem unabänderlichen, demografischen Trend ausgeliefert, sondern könnten ihre Anstrengungen auf "Zusammenhänge richten, die sie beeinflussen können".

"Aufruf zur Mission"

Welche genau das sind, scheint noch nicht ganz klar zu sein. Der Chef der deutschen Bischofskonferenz, Reinhard Kardinal Marx, sagte: "Wir geraten angesichts der Projektion nicht in Panik, sondern werden unsere Arbeit entsprechend ausrichten." Für ihn sei die Studie auch "ein Aufruf zur Mission".

"Die Situation ist dramatischer, als die Zahlen zeigen", sagt hingegen der Mathematiker Andreas Barner, der auch EKD-Ratsmitglied ist. "Wir sind Teil eines säkularen Trends, der schwer zu beeinflussen ist."

Am wahrscheinlichsten ist ein Kirchenaustritt der Erhebung zufolge bei jungen Leuten zwischen 25 und 35 Jahren - Menschen, die mit dem Eintritt ins Erwerbsleben erstmals Kirchensteuer zahlen müssten. Bis zum 31. Lebensjahr treten 31 Prozent der getauften Männer und 22 Prozent der getauften Frauen aus der Kirche aus.

2017 verließen 167.422 Katholiken ihre Kirche, bei den Protestanten waren es deutlich mehr - 197.238. Dafür ist die Zahl der Eintritte bei den Protestanten mit mehr als 60.000 Gläubigen derzeit fast viermal so hoch wie bei den Katholiken. Häufig ist die Konfirmation ein Anlass, Kirchenmitglied zu werden.

Wie verheerend sich ein Vertrauensverlust der Gläubigen für die Institution auswirkt, zeigt die Kurve der Kirchenaustritte aus der katholischen Kirche seit 2001. Ereignisse wie der Missbrauchsskandal 2010 oder die Kontroverse um den Limburger "Protz"-Bischof Franz-Peter Tebartz-van Elst 2013 machen sich mit deutlichen Ausschlägen bemerkbar. Bei den Protestanten sorgte der Streit um die Kirchensteuer auf Kapitalerträge 2014 für eine Austrittswelle.

"Niemand sollte unterschätzen, wie viele segensreiche Aktivitäten für Kirche und Gemeinwesen insgesamt durch die Kirchensteuer möglich sind", sagt der Ratsvorsitzende der evangelischen Kirche in Deutschland, Heinrich Bedford-Strohm. Er betont jedoch auch: "Die Zukunft der Kirche entscheidet sich nicht an Mitgliedschaftszahlen oder Finanzkraft, sondern an ihrer Ausstrahlungskraft." Bedford-Strohm zeigte sich überzeugt, dass Frömmigkeit kein Auslaufmodell sei, "sondern ein Zukunftsmodell".

Lesen Sie hier das komplette Interview mit Heinrich Bedford-Strohm.

Lesen Sie auch unsere Analyse: Welche Alternativen zur Kirchensteuer diskutiert werden

Im Video: Reise durch die Religionen - Was glaubt ihr denn?

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