Leben mit HIV Die Angst der anderen

Etwa 73.000 HIV-Infizierte leben in Deutschland, mehr als je zuvor. Jedes Jahr kommen fast 3000 neudiagnostizierte Fälle dazu. 30 Jahre nach der Entdeckung von Aids fühlen sich Betroffene noch immer ausgegrenzt - vor allem bei Arztbesuchen.
Ausgegrenzt innerhalb der Gesellschaft: HIV gleicht einem Stigma

Ausgegrenzt innerhalb der Gesellschaft: HIV gleicht einem Stigma

Foto: Corbis

Hamburg - Mit Rock Hudson kam die Panik. Das Bild des Hollywood-Stars auf der ersten Seite der Tageszeitungen. "Rock Hudson an Aids erkrankt", "Denver-Stars in Angst, hat er sie angesteckt?" Thomas sieht die Schlagzeilen vom Sommer 1985 noch vor sich. Er jobbte damals als Teenager in einem Kiosk in einer Kleinstadt in Schleswig-Holstein.

Die Kunden waren entsetzt, Thomas' Familie auch. Doris Days Dauerfreund aus den Pyjama-Komödien sterbenskrank? Infiziert mit dem geheimnisvollen, tödlich verlaufenden Virus, ausgelöst durch Homosexualität und "genusssüchtigem Lebensstil", wie die Blätter damals titelten? Der Schauspieler lag nach einem Zusammenbruch im Hotel Ritz im L'Hôpital Américain in Paris. Hudsons PR-Managerin Yanou Collart teilte in seinem Auftrag der Öffentlichkeit mit: Der Traummann vieler Frauen ist schwul - und HIV-positiv.

Patienten flohen aus Angst vor Ansteckung aus der Klinik. Die Fluggesellschaften verweigerten den Transport eines Aids-Kranken, Hudson charterte schließlich nur für sich und seine Begleiter eine Boeing 747 zurück nach Los Angeles. Pressebetreuerin Collart küsste und umarmte ihn zum Abschied - die Boulevardblätter titelten: "Aids-Kuss!". Thomas klemmte die Zeitungen mit ihren lauten Schlagzeilen in den klapprigen Zeitungsständer vorm Kiosk. 14 Jahre später infizierte er sich selbst mit dem Virus.

Mehr als 25 Jahre später gibt es noch immer Momente, in denen sich Thomas so fühlt, wie sich Rock Hudson damals gefühlt haben muss: Das Virus gleicht einem Stigma. Jeder Anruf bei einem neuen Arzt koste ihn als HIV-Infizierten Überwindung. Dort muss er seine Infizierung erwähnen, mehrfach sei er abgewiesen worden, sagt Thomas, 42, ein schlaksiger Typ, die Haare zu dünn, das Lächeln gewinnend.

Der Verwaltungsfachwirt lebt als Single an der Ostsee, treibt viel Sport, schwimmt, spielt Basketball. Trotz des stürmischen Wetters an diesem Januartag trägt er seine Laufschuhe, acht bis zehn Kilometer will er heute noch laufen.

Erst im vergangenen Herbst wollte Thomas den Zahnarzt wechseln, füllte das Anmeldeformular wahrheitsgemäß aus. Der Verwaltungsfachwirt spürte, wie die Arzthelferinnen im Flur der Praxis zusammenstanden, ihn musterten, mit dem Arzt im Behandlungsraum verschwanden. "Eigentlich" nähmen sie keine neuen Patienten mehr an, wurde ihm schließlich mitgeteilt. Da es sich um einen Notfall handele, könnte er am nächsten Abend als letzter Patient noch einmal vorbeischauen. Doch für seine Schmerzen sei eine zeitnahe Behandlung "eigentlich" sinnvoller, er könne es "gern auch woanders" versuchen, erinnert er sich heute.

"Ansteckendere Infektionskrankheiten als HIV"

Thomas fand einen anderen Zahnarzt, wieder eine Empfehlung aus dem Kollegenkreis. Auch der vertröstete ihn auf den Abend, "nach der offiziellen Sprechstunde", erst dann sei gewährleistet, dass das Personal den Raum und das benutzte Besteck gründlich desinfizieren könne für die Patienten nach ihm.

Eine nicht-repräsentative Umfrage bei 16 Zahnarztpraxen zeigt: In den meisten Fällen bekommt man auch kurzfristig einen Termin innerhalb der üblichen Sprechstunde. Erwähnt man die HIV-Erkrankung, wird der Termin in 15 Fällen auf das Ende der Sprechstunde verlegt.

"Repräsentativ" seien diese Testanrufe natürlich nicht, aber "schon auffällig", sagt Dietmar Oesterreich, Vizepräsident der Bundeszahnärztekammer. Dabei sei bekannt, dass ein Zahnarzt bei jedem Patienten dieselben Maßnahmen zur Hygiene sowie zur Infektionskontrolle durchführen müsse, egal ob der seine Infektion in der Anamnese angebe oder nicht. Es könne auch sein, dass dem Patienten eine HIV-Infektion nicht bekannt sei. "Es gibt außerdem ansteckendere Infektionskrankheiten wie etwa Hepatitis B", sagt eine Zahnärztin aus Hamburg.

Wissenschaftliche Publikationen machen deutlich: "Es ist unsinnig, HIV-positive Patienten am Ende der Sprechstunde einzubestellen, so wie es in manchen Praxen Usus ist." Hinweisen von Patienten, die sich in Praxen ausgegrenzt fühlen oder gar abgelehnt wurden, gehe man nach entsprechender Information auf Basis des Berufsrechts nach, sagt Dietmar Oesterreich.

"Jeder Patient, der sich ausgegrenzt oder ungerecht behandelt fühlt, muss den Fall bei der jeweiligen Landesärztekammer anzeigen", rät Alexander Dückers von der Bundesärztekammer. Ihm selbst seien keine Fälle bekannt.

Helga Neugebauer, Ärztin für innere Medizin und für die Aids-Hilfe Hamburg tätig, dagegen schon. "Wir haben schon heftige Aussagen gehört", sagt sie. Ein Zahnarzt habe beispielsweise einen Betroffenen angebrüllt: "Sie haben meine Praxis verseucht!"

Immer wieder die Frage: "Wie hast du dich angesteckt?"

Auf der Website der Zahnärztekammer in Berlin kann man eine Liste einsehen mit Zahnärzten, die ausdrücklich bereit sind, HIV-Patienten zu behandeln. Für Thomas ist auch solch eine Liste eine Art Diskriminierung. Es hat lange gedauert, bis er sich zu einem Gespräch durchringen konnte. "Mein Problem ist nicht das Virus, sondern das Verhalten derer, die damit konfrontiert werden und deren Unwissenheit." Oft fühle es sich so an, als habe sich nichts geändert, seit er als Teenager die Zeitungen mit den Rock-Hudson-Schlagzeilen einsortiert hat.

Dabei leben in Deutschland mit mehr als 73.000 Betroffenen so viele HIV-Infizierte wie nie zuvor, jedes Jahr kommen fast 3000 Fälle dazu, davon sind 2500 Männer.

In den vergangenen Jahrzehnten hat sich die medizinische Versorgung enorm verbessert: Aids ist noch immer nicht heilbar, aber aus der tödlichen Krankheit ist eine chronische geworden, mit der man leben kann. Betroffene wie Thomas nehmen jeden Tag eine ordentliche Dosis antiviraler Medikamente, davon abgesehen leben sie ein ganz normales Leben. Wäre da nicht die Angst. Die Angst der anderen, sich anzustecken.

Seit zwölf Jahren weiß Thomas, dass er HIV positiv ist. Seine Eltern wissen es nicht. Er scheut die immer gleiche Reaktion, die auf das Geständnis folgt: "Wie hast du dich angesteckt?" Eine Frage, die für ihn wie ein Vorwurf klingt: Du hast dich infiziert, weil du schwul bist, weil du kein Kondom benutzt hast, weil dein Lebenswandel unstet war. Aids als Strafe für unmoralisches, verwerfliches Verhalten. So empfindet es Thomas.

Anfangs weihte er nur seine Geschwister und enge Freunde ein. Sie mieden ihn nicht, fürchteten nicht die körperliche Nähe zu ihm. Durch diese Erfahrung bestärkt vertraute sich Thomas auch anderen an und kann nun zig Beispiele aufzählen, die die Ängste seiner Umwelt dokumentieren, als sie von seiner Infektion erfuhren - bei der Arbeit, im Sportverein.

Auch Dennis aus Hamburg, 34, outet sich nur als HIV-Infizierter, wenn es sich nicht vermeiden lässt. Nachdem er bei einer Zahnärztin in Hamburg einen extra detaillierten Fragebogen ausfüllen und dann ebenfalls ans Ende der Sprechstunde gedrängt werden sollte, verließ er die Praxis und schrieb der Ärztin einen Brief. "Ich war gekränkt, wütend, enttäuscht", sagt Dennis. Die Ärztin antwortete, entschuldigte sich, legte eine Kopie des neuen und inzwischen gekürzten Auskunftsbogens bei und gab an, sie habe sich mit dem Robert-Koch-Institut besprochen: Dennis habe recht, eine standardmäßige Reinigung des Behandlungsbestecks sei ausreichend.

Die OP-Schwester einer Tagesklinik in Hamburg war weniger einsichtig. Sie weigerte sich, bei der Operation von Dennis' Knie zu assistieren. Zwei Tage vor dem Eingriff bekam er einen Anruf, dass er nicht operiert werden würde. "Ich geriet in Panik", sagt Dennis, hatte er doch seinen Arbeitgeber informiert, freigenommen, Freunde eingespannt, die ihm nach der OP im Alltag helfen sollten. Sein Orthopäde fand einen anderen Orthopäden. "Nur weil ich Druck auf die neue Praxis ausübte, konnte ich zwei Tage nach dem ursprünglich geplanten Termin operiert werden."

Die Ärztekammer Hamburg, der Dennis den Vorfall schilderte, schrieb ihm, die HIV-Infektion eines Patienten stelle keinen "Grund für die Ablehnung einer OP dar".

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