Eskalierte "Querdenken"-Großdemo in Leipzig Chaostag, Chaosnacht

Offenbar Dutzende Übergriffe auf Journalisten, Beamte und Zivilisten: Wie eine Großkundgebung des "Querdenken"-Bündnisses in Leipzig aus dem Ruder lief.
Von Peter Maxwill und Edgar Lopez, Leipzig
Demonstrierende im Zentrum von Leipzig: "Wir lassen uns den Scheiß nicht mehr länger gefallen!"

Demonstrierende im Zentrum von Leipzig: "Wir lassen uns den Scheiß nicht mehr länger gefallen!"

Foto: Sebastian Kahnert / dpa

Es ist nicht mal 12 Uhr mittags, als Superman seinen ersten Auftritt hat. Der vermeintliche Held, ein untersetzter Mann in knallbuntem Ganzkörperkostüm, stellt sich vor eine Antifa-Gruppe nahe der Alten Messe in Leipzig und beginnt eine Diskussion. Warum sie denn die Straße blockieren, will er wissen, was ihr Problem mit der Demo sei? "Habt ihr was gegen Frieden?"

Ein älterer Herr kommt dazu, er ist nicht so diplomatisch wie Superman. "Das ist Kommunistenpack", sagt er über die Straßenblockierer, "die haben wir schon '89 ..." – er beendet den Satz nicht, weil Superman ihn ausbremst. Der Kostümierte behauptet nun, dass auch er in der Antifa sei und dass es doch gut wäre, wenn mehr Linke im "Querdenken"-Bündnis wären und dort für "Gleichgewicht" sorgten.

Aus dem Gleichgewicht gerät an diesem Tag in Leipzig so einiges. Mehr als 20.000 Menschen folgen dem Aufruf des "Querdenken"-Bündnisses, um im Zentrum der sächsischen Großstadt gegen die Corona-Politik zu demonstrieren.

Auch ein Großaufgebot der Polizei verhindert nicht, dass die Lage schnell unübersichtlich wird: Am Abend fliegen Gegenstände und Pyrotechnik, Polizeiketten werden durchbrochen, Beamte und Journalisten attackiert. Die Behörden wussten, wie viele Menschen anreisen wollten und dass auch Rechtsextremisten massiv mobilisiert hatten – wie konnte die Lage trotzdem so eskalieren?

Ein Davidstern, Aluhüte, ein "Zwangsimpfung"-Schild

Der Demo-Tag beginnt früh. Am Hauptbahnhof kommen am Vormittag Hunderte schwarz gekleidete Männer an, einige tragen Flaggen des deutschen Kaiserreichs, der Aufmarsch wirkt bedrohlich. Nach SPIEGEL-Informationen hatte die Polizei schon vorab damit gerechnet, dass die Lage bei Zehntausenden Menschen auf engem Raum aus dem Ruder laufen könnte.

Dabei kommen nicht nur gewaltbereite Rechtsextreme nach Leipzig: Neben "Querdenken" und der islamfeindlichen "Bürgerbewegung Pax Europa" haben auch Bündnisse wie "Love Wins" und die "Basisdemokratische Partei Deutschlands" Kundgebungen angemeldet, hinzu kommen gleich mehrere linke Gegenproteste. 27 Demos sind es insgesamt, schon vor der Pandemie wäre das eine unübersichtliche Ausgangslage gewesen.

Angesichts der Tausenden Demonstranten hatte die Stadt vorab die Großkundgebung aus der Innenstadt auf das neun Kilometer entfernte Messegelände verlegt – dort hätten 16.000 Menschen mit ausreichend Abstand zueinander demonstrieren können. Das Oberverwaltungsgericht in Bautzen kippte diese Bestimmung jedoch wenige Stunden vor Beginn der Demo.

Wie bizarr die Mischung der Teilnehmerinnen und Teilnehmer an diesem Tag ist, zeigt sich schon mittags überall im Stadtzentrum: Eine Frau trägt ein Schild um den Hals, auf dem neben einem stilisierten Davidstern "Ich bin Covidjud'" steht. Anderswo rufen Leute "Wir sind das Volk", einige tragen selbst gebastelte Aluhüte, Motive und Sprüche der rechtsextremen Szene – oder Transparente mit der Aufschrift "Zwangsimpfung".

Es gibt aber auch Beiträge, die sich nicht ausschließlich in Verschwörungsgerede verlieren. Als Heike Oehlert die Bühne auf dem Augustusplatz betritt, stellt die Kommunalpolitikerin durchaus diskussionswürdige Fragen: Warum Schulen geöffnet blieben, Restaurants aber nicht? Weshalb es in vielen Schulklassen eine Maskenpflicht gebe, aber eben nicht in allen? Allerdings stellt Oehlert auch ziemlich fragwürdige Fragen: "Warum steht jede unkontrollierte Bewegung unseres rechten Armes unter dem Verdacht, ein verfassungsfeindliches Symbol zu sein?"

"Ein Virus hat nicht nur die Gesundheit, sondern auch den Rechtsstaat befallen."

Christoph Wonneberger

Ernsthaft diskutiert wird an diesem Tag ohnehin nicht, stattdessen bestätigen sich die selbst ernannten "Querdenker" gegenseitig in ihrer Weltsicht: Uwe Steimle, der wohl umstrittenste und bekannteste Kabarettist Ostdeutschlands, gibt auf der Bühne eine Honecker-Parodie zum Besten. Etwas später tritt Thomas Berthold auf, einer der Fußballweltmeister von 1990. Er schaue seit Mai keinen Fußball mehr, sagt er, alles werde politisch instrumentalisiert. Dann spricht er über "Verrat am Fan", ruft schließlich ins Mikro: "Wir lassen uns den Scheiß nicht mehr länger gefallen!"

Bertholds Auftritt zeigt, was alle "Querdenken"-Demonstrierenden an diesem Tag eint: Sie sind wütend, auf "die da oben", auf "das System", "die Eliten". "Keine 3. Diktatur in Deutschland" steht auf einem Plakat, ein anderes warnt vor einer zweiten DDR, auf einem weiteren Schild steht: "Corona-Faschismus sofort beenden".

Dass in Diktaturen weder Großdemos noch das Zeigen solcher Schilder möglich wären, schreckt auch Christoph Wonneberger nicht ab. Der 76-Jährige koordinierte einst die "Friedensgebete" in Leipzig, nun spricht dieser Held der Revolution von 1989 auf der "Querdenken"-Bühne.

Viele hätten ihm geraten, nicht auf einer Nazidemo zu sprechen, sagt er, und tatsächlich habe er Bedenken gehabt. Aber 1989 habe man sich ja auch nicht aussuchen können, mit wem man auf die Straße gehe.

Wonneberger sagt ein paar harmlose Sätze, dann kommt er auf die Pandemie zu sprechen: "Ein Virus hat nicht nur die Gesundheit, sondern auch den Rechtsstaat befallen", sagt er. Die Menschen sollten daher auf die Straße gehen, damit der Rechtsstaat wieder gesund werde.

Gesund wird an diesem Demo-Tag aber wohl kaum jemand. Irena Rudolph-Kokot vom "Bündnis Leipzig nimmt Platz", das eine Gegendemo organisiert hat, bezeichnet die gerichtliche Genehmigung der "Querdenken"-Kundgebung als "offizielle Zulassung eines Superspreader-Events mit Ansage".

Einige Stunden später meldet sich das "Bündnis Leipzig nimmt Platz" auf Twitter: Alle Gegendemonstranten sollten sich zurückziehen, heißt es dort: "Wir schätzen die Lage als zu gefährlich ein."

Tatsächlich verliert die Polizei im Laufe des Abends offenkundig die Kontrolle über das Geschehen: Obwohl die Kundgebung längst von der Stadt offiziell aufgelöst wurde und Demonstrationszüge verboten sind, ziehen Tausende in der Dunkelheit durch die Innenstadt – und erreichen damit ein zentrales Ziel: Die Organisatoren hatten es auf einen großen Protestmarsch durchs Stadtzentrum angelegt, vergleichbar mit jenem vom 6. November 1989, als Hunderttausende gegen das SED-Regime demonstrierten.

Mit friedlicher Revolution haben die Geschehnisse an diesem Samstag allerdings nichts zu tun: Polizeiketten werden durchbrochen, es kommt zu Prügelattacken und jagdähnlichen Szenen, unter den Angreifern sind ganz offenkundig viele Rechtsextreme. Die Journalistengewerkschaft DJU berichtet am Abend, mindestens 32 Journalistinnen und Journalisten seien von "körperlichen Angriffen und Behinderungen betroffen".

Die vorläufige Bilanz dieses chaotischen Tages: zahlreiche Übergriffe auf Beamte und Zivilisten, eine zwischenzeitlich offenkundig überforderte Polizei, zudem gab es mehrere Festnahmen. In Leipzig werden sie wohl noch lange über diesen Tag sprechen.

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