
Love-Parade-Desaster "Ich bin verletzt"
Sie haben ihm aufgelauert, wieder einmal. Mit Pfiffen und Buhrufen empfängt ein gutes Dutzend Demonstranten den kleinen, kräftigen Mann, der sich aus seinem Dienstwagen zwängt.
Der erste Bürger der Stadt eilt an den Menschen mit den Trillerpfeifen vorüber. Er schaut sich das Plakat mit dem Schriftzug "Sauerland: Rücktritt!" an, als sei ein anderer gemeint. , 55, schüttelt den Kopf, so wie Lehrer über ungezogene Kinder den Kopf schütteln. Dann bleibt er kurz stehen, zeigt mit der rechten Hand auf seine linke Schulter und ruft: "Ich bin verletzt."
Ich bin verletzt.
Mit diesem Satz macht der Duisburger Oberbürgermeister alles noch schlimmer. Einige der Demonstranten tragen schwarze T-Shirts. "Love Parade, 21 Tote, 511 Verletzte", steht darauf. Sie sind gekommen, weil sie wollen, dass Sauerland endlich die Verantwortung für die Katastrophe in ihrer Stadt übernimmt. Dass er sein Amt aufgibt, aus Respekt vor den Opfern.
"Jetzt spielt der noch den armen Kranken"
Doch Sauerland redet auf dem Weg zum Frühschoppen des Duisburger CDU-Kreisverbands von seiner eigenen Verletzung. Er ist bei einer Motorradfahrstunde gestürzt, hat sich das linke Schlüsselbein gebrochen. "Jetzt spielt der hier noch den armen Kranken", empört sich Verkäuferin Petra Swegat, 51.
Acht Wochen nach dem ist der Duisburger Oberbürgermeister zum Getriebenen geworden. Zwar scheiterte die Abwahl des Christdemokraten im Rat an der Vasallentreue der CDU-Fraktion, doch Sauerlands Alltag wird dadurch nicht einfacher. Wochenlang hatte das Stadtoberhaupt sich im Rathaus versteckt, fast alle öffentlichen Termine abgesagt. Seit er sich nun wieder nach draußen wagt, droht jeder Auftritt zu einem Spießrutenlauf zu werden.
Sie seien keine Juristen und wollten niemanden vorverurteilen, sagt die Demonstrantin Swegat: "Aber wenn wir in unseren Jobs Fehler machen, müssen wir auch dafür geradestehen." In der von Sauerland geführten Verwaltung, da ist sie sich sicher, seien auf jeden Fall Fehler gemacht worden, bei der Genehmigung der Love Parade und der Kontrolle der städtischen Auflagen etwa. Auch wenn der Oberbürgermeister sich nun hinter Rechtsgutachten verschanze, die das Gegenteil sagen.
Unter Druck
Spontan hat Petra Swegat sich mit den anderen zum Protest verabredet, über ein Internetforum. Die Truppe will weitermachen, die nächsten Auftritte des Stadtoberhaupts in Erfahrung bringen, neue Mitstreiter suchen. Swegats Nebenmann Dirk Schales, 42, ein Speditionskaufmann, prophezeit: "Sauerland wird als Oberbürgermeister nicht mehr glücklich in unserer Stadt."
Selten ist ein Amtsträger in dieser Republik von Staatsspitze und Fußvolk zugleich derart unter Druck gesetzt worden; sogar Bundespräsident Christian Wulff empfahl seinem Parteifreund, abzutreten. Bei der Aufführung von Gustav Mahlers "Symphonie der Tausend" in Duisburg ließen sich weder Wulff noch die nordrhein-westfälische Ministerpräsidentin Hannelore Kraft (SPD) mit Sauerland fotografieren. Der Oberbürgermeister der 500.000-Einwohner-Stadt stand im Abseits wie ein Aussätziger.
Doch Sauerland harrt aus, und das in Zeiten, in denen Rücktritte, mal freiwillig, mal notgedrungen, alltäglich sind. Thilo Sarrazin, Ole von Beust, Roland Koch, Margot Käßmann - meist sind es bedeutendere Leute als Sauerland, und sie gehen aus geringerem Anlass.
Ein schwerer Vorwurf
Selbst seine Gegner werfen Sauerland nicht vor, er allein habe Fehler gemacht. Der Veranstalter der Love Parade und die Polizei stehen ebenfalls in der Kritik. Auch von Schuld sprechen nur wenige. Dafür ist es zu früh. Die Schuldfrage muss die Justiz klären. Doch viele machen den Oberbürgermeister politisch mitverantwortlich für den Tod von 21 Menschen in seiner Stadt - ein schwerer, ein erdrückender Vorwurf.
Was bewegt Sauerland, im Amt zu bleiben? Ist es Starrsinn? Masochismus? Seine Freunde behaupten, es sei Charakterstärke.
Ein Vertrauter Sauerlands nippt an einer Tasse Kaffee in einem Duisburger Bahnhofscafé. Seit 25 Jahren ist der CDU-Ratsherr mit Sauerland und dessen Familie eng befreundet. Man kennt sich noch aus der Jungen Union. In den Wochen nach der Love Parade hat er viel mit Sauerland unternommen, ihm zugehört bei privaten Abendessen.
Ein Rücktritt, sagt dieser Freund, wäre aus Sauerlands Sicht ein Schuldeingeständnis: "Er will nicht, dass sein Name und der seiner Familie auf immer mit der Love Parade verbunden wird." Deshalb habe er sich auferlegt, weiterzumachen, durchzuhalten, im Amt "für seine Unschuld zu kämpfen".
Wie das gehen soll, kann freilich auch Sauerlands Entourage nicht sagen. Als Oberbürgermeister muss er nach dem Unglück zu viele, zu gegensätzliche Rollen spielen. Aufklärer will er sein und gilt doch dem Volk zugleich als Verdächtiger. Trost möchte er seinen erschütterten Bürgern spenden. Aber er findet die richtigen Worte nicht. Vielleicht, weil auch er zu tief getroffen ist. Seine Berater setzen deshalb inzwischen vor allem auf den Faktor Mitleid.
Viele Duisburger Bürger fänden die "Hetzjagd" auf ihren Oberbürgermeister mittlerweile "schäbig", glaubt ein Sauerland-Vertrauter. Er verweist auf einzelne Unterstützer-Demos, organisiert von Nachbarn und Weggefährten. Die Anti-Sauerland-Proteste würden hingegen vor allem von Auswärtigen, Medien und Mitgliedern linker Parteien angefacht, verbreiten seine Getreuen.
"Absurd, nur noch absurd"
Auf einer hellen Ledercouch im Wohnzimmer seines Eigenheims in Duisburg-Walsum sitzt Werner Hüsken, 58, und findet solche Sätze "absurd, nur noch absurd". Der hochgewachsene Mann, Vater von vier Söhnen, sagt, er gehöre keiner Partei an. Aus Ärger über einen Fernsehauftritt des Stadtoberhaupts zog der gelernte Krankenpfleger nach der Katastrophe mit einem Tischchen und ein paar Zetteln in die Innenstadt. So wurde er zum Initiator einer Bürgerinitiative, die binnen drei Wochen 10.000 Unterschriften für Sauerlands Abwahl sammelte.
70 bis 80 Prozent der Duisburger "wollen diesen Oberbürgermeister nicht mehr", schließt Hüsken aus seinen Gesprächen am improvisierten Info-Stand. Doch Sauerland ignoriere den Volkszorn, ihm sei der Bezug zur Wirklichkeit abhandengekommen: "Dieser Mann lebt ganz in seiner eigenen Gefühlswelt."
In der Welt des Duisburger Oberbürgermeisters drehte sich in den Wochen nach der Love Parade einiges um schnelle Flitzer auf zwei Rädern. In seiner Freizeit nahm er viele Motorrad-Fahrstunden. Oft packte er schon morgens seine Lederkluft in den Dienstwagen, um keine Zeit zu verlieren nach Dienstschluss.
Silberne BMW
Der Termin für die Fahrprüfung stand bereits fest. Nun vermasselt ihm ein Schlüsselbeinbruch vorerst den ersehnten Abschluss. So muss der Oberbürgermeister seinen Traum von einer richtig großen Maschine noch etwas zurückstellen. Silberfarben soll sie sein, Marke BMW.
Unterschriftensammler Hüsken verbringt fast seine gesamte Freizeit mit Gesprächen und Recherchen zur Love Parade. Sein jüngster Sohn Tobias besuchte die Megaparty, er feierte dort mit Freunden seinen 21. Geburtstag. Hüsken und seine Frau Ulrike können die Stunden nicht vergessen, in denen sie am Abend der Katastrophe auf Tobias' Anruf warteten, in Angst um ihren Sohn. "Es ist reines Glück, dass er noch lebt", sagt die Mutter. Jetzt versuchen sie, etwas für die Eltern zu tun, die weniger Glück hatten.
Das Mindeste wäre, dass Sauerland doch noch gehe, meinen die Hüskens. Sie wollen sich weiter dafür einsetzen, Demos und Mahnwachen besuchen. Formal stehen die Chancen schlecht, seit am 13. September im Stadtrat die nötige Zweidrittelmehrheit zur Abwahl verfehlt wurde. Der Oberbürgermeister darf nun weitermachen, noch fünf Jahre lang.
"Er könnte einfach gehen"
Sauerland muss selbst entscheiden, ob er das wirklich will. "Er könnte einfach gehen", hofft Hüsken. Und sagen, er halte es im Amt nicht mehr aus: "Jeder in Duisburg würde das verstehen, ohne Häme." Die Alternative, das Weiter-So mit Sauerland, droht auch für die Partei des Oberbürgermeisters zum Fiasko zu werden. Duisburg habe de facto ein "handlungsunfähiges Stadtoberhaupt", analysiert Uwe Linsen, Fraktionsgeschäftsführer der SPD im Stadtrat. Am Ende würden die Bürger das der CDU anlasten, die starr an ihm festhalte.
Der Oberbürgermeister selbst müht sich indessen, so tatkräftig wie möglich zu erscheinen. Er hüpft mit federnden Schritten die Rathaustreppe herunter, vorbei an einer Schar Frauen mit Transparenten. Diesmal ist es keine Demo gegen ihn, die Proteste richten sich gegen die Schließung einer Grundschule im Stadtteil Hüttenheim. "Langsam kehrt der Alltag zurück", verkündet Sauerland. Er blinzelt vergnügt durch seine großen Brillengläser.
Sauerland wirkt in diesen Wochen wie ein Mann, der sein altes Leben zurückhaben möchte, sein Leben vor der Love Parade. Ein Leben, in dem er Kinderköpfe streichelte und Begegnungsstätten eröffnete. Ein Leben, in dem er ein geachteter Mann war in Duisburg. Geachtet, weil er vieles richtig machte, etwa bei der Integration von Ausländern.
Sauerland lächelt
Jetzt versucht er, genau die Dinge zu tun wie früher, doch plötzlich wirkt nichts mehr richtig. Weil jede Geste und jedes Wort von ihm die Menschen an den 24. Juli erinnert. An die Toten der Love Parade und seine, Adolf Sauerlands, Rolle bei dieser Katastrophe. Im Aquarium des Duisburger Zoos ehrt Sauerland an diesem Nachmittag die besten Jugendsportler der Stadt, verteilt Plüschgorillas, Memorysticks und Schlüsselanhänger. Er macht Witze, klopft auf Schultern. Dann setzt er sich auf eine Bierbank und schaut zu, wie ein junger Mann auf der Bühne zwei grüne Jo-Jos durch die Luft wirbelt. Sauerland lächelt, versunken in sich selbst.
Susanne Müller lächelt nicht. Die schlanke Frau mit der modischen Kurzhaarfrisur sitzt zwei Meter links neben dem Oberbürgermeister, nur ein schmaler Gang trennt die beiden. Sauerland hat auf der Bühne ihre 13-jährige Tochter Maria ausgezeichnet, für besondere Leistungen beim Einradfahren. Auch Maria war auf der , mit ihrem Vater. Sie sah, wie Rettungskräfte Schwerverletzte reanimierten.
Ihre Mutter blickt verstohlen zu Sauerland herüber. Sie könne dieses Gesicht nicht mehr sehen, sagt sie. Es klingt nicht aggressiv, eher so, als müsse sie sich für ihre Gefühle entschuldigen: "Mir tut er ja auch Leid", flüstert Susanne Müller: "Aber wenn er gehen würde, wäre es für alle in der Stadt leichter."