Interview Darf man als Christ AfD wählen, Frau Käßmann?

Wie rebellisch ist die evangelische Kirche 500 Jahre nach der Reformation? Wie politisch? Und mangelt es ihr an Spiritualität? Klartext zum Lutherjahr von Deutschlands streitbarster Theologin.
Reformationsbotschafterin Margot Käßmann

Reformationsbotschafterin Margot Käßmann

Foto: Hendrik Schmidt/ picture alliance / Hendrik Schmidt/dpa-Zentralbild/dpa

Die evangelische Kirche feiert 500 Jahre Reformation und legt sich mächtig ins Zeug, um möglichst viele Menschen ins Boot zu holen. Im Mai stehen die Eröffnung der Weltausstellung in Wittenberg und der Kirchentag an, viele tausend Besucher werden erwartet.

Margot Käßmann ist Lutherbotschafterin und hat seit ihrem Rücktritt als Ratsvorsitzende der evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) nichts von ihrem politischen Elan und ihrer Streitbarkeit verloren.

Das Jubiläum dürfe keine deutschnationalistische Luther-Heldengedenkfeier wie 1817 und 1917 sein, sagt Käßmann, sondern müsse Menschen aus aller Welt zusammenbringen, "die in Wittenberg darüber diskutieren, wie reformatorisch wir heute sein wollen".

SPIEGEL ONLINE: Steckt in der evangelischen Kirche überhaupt noch ein Funken Lutherschen Revolutionsgeistes?

Käßmann: Ich finde, wir können stolz darauf sein, dass unsere Kirche in der Flüchtlingsfrage so klar Haltung zeigt. Wir haben als Christen politisch Stellung bezogen, indem wir Geflüchteten und von Abschiebung Bedrohten Kirchenasyl gewährt haben. Wir haben kritisiert, dass Konvertiten in Asylverfahren Glaubensfragen gestellt wurden. Sowohl in den Ortsgemeinden als auch in der Kirchenleitung stand immer fest: Der Fremde, der unter euch wohnt, den sollt ihr schützen. Manchmal haben wir deshalb Probleme mit den Behörden.

SPIEGEL ONLINE: Finanzminister Wolfgang Schäuble hat wie manch anderer vor einer zu starken Politisierung der evangelischen Kirche gewarnt. Können Christen in Zeiten des Populismus und eskalierender internationaler Konflikte überhaupt unpolitisch sein?

Käßmann: Ich glaube nicht, dass das möglich ist. Und die Politik hat der Kirche auch nicht zu sagen, was sie zu tun hat. Das ist ein sehr merkwürdiger Impuls, uns erklären zu wollen, was es bedeutet, richtig Kirche zu sein. Wenn in der Bibel steht, Gerechtigkeit und Frieden sollen sich küssen, dann hat das einen politischen Effekt, dann steht das auf der Tagesordnung der Kirche. Wir haben die Rüstungsgeschäfte Deutschlands scharf kritisiert und das ist auch unsere Aufgabe.

SPIEGEL ONLINE: Ist es so, dass nur ein schärferes politisches Profil die Menschen noch in die Kirche locken kann?

Käßmann: Das ist meine persönliche Überzeugung, ja. Es ist gut, in gesellschaftlichen Fragen Stellung zu beziehen. Andere wünschen sich aber mehr Mission oder ein stärkeres Glaubensprofil. Unsere Kirche ist so organisiert, dass keiner das von oben verordnen kann. Aber in den Fragen von Krieg und Frieden, von globaler Gerechtigkeit, vom Umgang mit Menschen auf der Flucht - da können wir nicht schweigen. Einmal habe ich einen Shitstorm provoziert, als ich auf die Frage, was Jesus zu Terroristen sagen würde, mit seinen Worten antwortete: "Selig sind die Frieden stiften. Bittet für die, die euch verfolgen."

Flüchtlinge 2014 in der Thomas-Kirche in Berlin-Kreuzberg

Flüchtlinge 2014 in der Thomas-Kirche in Berlin-Kreuzberg

Foto: imago/ Christian Ditsch

SPIEGEL ONLINE: Der Militärpfarrer Pascal Kober (FDP) hat Ihnen wegen dieser Äußerung Populismus vorgeworfen und Sie mit Donald Trump und Frauke Petry verglichen. Was sagen Sie dazu?

Käßmann: Ich kenne Herrn Kober nicht, kann mir aber vorstellen, dass er, indem er mich öffentlich derart angeht, genau die Aufmerksamkeit bekommen hat, die er offenbar gerade braucht. Mich freut es, dass die Bibel noch so provozieren kann.

SPIEGEL ONLINE: Darf ein evangelischer Christ AfD wählen?

Käßmann: Ich mochte es nie, wenn katholische Bischöfe ihren Gläubigen erklärt haben, welche Partei sie zu wählen haben. Deshalb werde ich in unserer Kirche keine Wahlempfehlungen aussprechen. Als Privatperson kann ich aber sagen, dass es mir vollkommen unverständlich ist, wie ein Christ AfD wählen kann.

SPIEGEL ONLINE: Warum?

Käßmann: Weil das Programm dieser Partei Menschen abwertet, die nicht so aussehen, wie sich AfDler sogenannte Bio-Deutsche vorstellen. Weil die Partei ein Frauenbild hat, das trotz der starken Protagonistin Frauke Petry unfassbar altbacken daherkommt. Man stelle sich vor: In Mecklenburg-Vorpommern etwa gibt es so viele alleinerziehende Frauen, fast zwei Drittel der Kinder sind außerehelich geboren. Aber ausgerechnet dort punktet die AfD mit einem Programm, das die Frau Zuhause am Herd sieht. Die AfD ist gegen eine EU-Mitgliedschaft, obwohl die EU Deutschland stark gemacht und eine Gemeinschaft kreiert hat, die sich nicht nationalistisch abgrenzt. Und über Schießbefehle gegen Flüchtlinge nachzudenken, verbietet sich für Christen.

SPIEGEL ONLINE: Auch Luther hat Menschen abgewertet. Er war unverhohlen antisemitisch, wie man es unter anderem in der Hetzschrift "Von den Juden und ihren Lügen" nachlesen kann. Wie gehen Sie mit dieser schweren Hypothek um?

Käßmann: Wir diskutieren diesen Aspekt seit dem Themenjahr "Reformation und Toleranz" 2013. Viele finden, Luther kommt zu negativ dabei rüber. Aber wir mussten seine Judenschriften und ihre fatalen Folgen analysieren. Die Schmähschriften wurden ja von den Nazis im "Stürmer" nachgedruckt und als Rechtfertigung für den eigenen Antisemitismus benutzt.

SPIEGEL ONLINE: War Luther Judenhasser aus Zeitgeist - oder hat er den Antijudaismus für seine machtpolitischen Ziele genutzt?

Käßmann: Der Zeitgeist allein wäre für mich eine zu einfache Entschuldigung. Zwar war es auch unter Gebildeten durchaus üblich, gegen Juden zu hetzen. Luther aber konnte grundsätzlich nicht tolerieren, dass jemand anders glaubt. Er las das ganze Alte Testament als einzigen Verweis auf Christus hin. Er konnte nicht akzeptieren, dass ein Jude sagte: "Das ist für mich die ganze Bibel." Selbst wenn ein Jude sich taufen ließ, empfahl Luther, ihm weiter zu misstrauen - wir haben es also ganz klar mit rassistischen Beweggründen zu tun.

SPIEGEL ONLINE: Der Religionssoziologe Hans Joas wirft der EKD vor, sie projiziere zu viel in die Reformationsgeschichte hinein. Luther habe keine Demokratie im Sinn gehabt, die Reformation sei nicht der Ursprung westlicher Werte.

Käßmann: Wissenschaftler streiten, das ist normal - und ganz im Sinne Luthers, der zum Mitdenken und Mitreden aufgefordert hat. Natürlich ging es nicht eins zu eins von Luther zu Kant. Aber es bleibt das Konzept der Freiheit des Gewissens und des Glaubens. Luther hat den Gedanken in die Welt gesetzt, der zum Nährboden für die Aufklärung und die Proklamation des Menschenrechts auf Religions- und Gewissensfreiheit wurde. Das Individuum ist frei zu denken und zu glauben. Sogar gegen die Institution der Kirche.

Allein im Jahr 2015 traten 210.000 Protestanten aus der Kirche aus - Tendenz steigend.

Allein im Jahr 2015 traten 210.000 Protestanten aus der Kirche aus - Tendenz steigend.

Foto: imago/ epd

SPIEGEL ONLINE: Viele Menschen verzweifeln an der politischen Lage und suchen nach Orientierung. Die Mitgliederzahlen in der EKD sinken aber weiter. Wieso gelingt es Ihnen nicht, die aktuellen Bedrängnisse für die Mission zu nutzen?

Käßmann: Wenn ich darauf eine Antwort hätte, wäre ich froh. Wir wissen, dass Kirche innovativ sein muss. Und natürlich wünsche ich mir, dass die Leute aus dem Gottesdienst kommen und sagen: "Das hat mir jetzt so viel Kraft gegeben für den Alltag, da komme ich nicht erst Weihnachten wieder." Aber dafür sollten die Kirchen nicht nur Halligalli machen und in jedem Gottesdienst Videoclips zeigen. Die Menschen sind auch selbst gefragt. Wie Antoine de Saint-Exupéry schrieb: "Wenn du ein Schiff bauen willst, dann trommle nicht Männer zusammen um Holz zu beschaffen, Aufgaben zu vergeben und die Arbeit einzuteilen, sondern lehre die Männer die Sehnsucht nach dem weiten, endlosen Meer."

SPIEGEL ONLINE: Wie meinen Sie das?

Käßmann: Wir müssen auch die Sehnsucht nach Glauben, nach Spiritualität, lehren.

SPIEGEL ONLINE: Vielleicht ist die Sehnsucht längst da, nur erwarten die wenigsten, dass sie in der Kirche erfüllt wird. Liegt das auch daran, dass die Kirche die Bedeutung der sozialen Netzwerke unterschätzt?

Käßmann: Unsere Stärke ist die Begegnung von Mensch zu Mensch. Jeder und jede kann in den Gottesdienst kommen und sich austauschen. Ich habe kein Problem mit Twitter und Facebook, aber den Eindruck, dass die Leute davon auch überfordert sind. Social Media bleibt anonym, das Face-to-Face in der Kirche ist echt.

SPIEGEL ONLINE: Was ist im Jahr 2017 oberste Christenpflicht?

Käßmann: Den Glauben leben im Alltag der Welt. Dabei wachsam und widerständig zu sein. Ich beobachte jeden Tag, wie der Rassismus um sich greift und die Sprache verroht. Neulich sagte ein Mann in einem Lebensmittelgeschäft zu einer offenbar zugewanderten Mutter mit drei Kindern: "Ihr vermehrt euch auch wie die Karnickel." Da bin ich sehr wütend geworden und eingeschritten. So etwas verbitte ich mir. Wehret den Anfängen. Und es fängt bei der Sprache an.

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