
Von Aleppo nach Olpe: Abdullah allein im Sauerland
Unbegleiteter Flüchtlingsjunge Zwischen den Welten
Schwarzes Metall. Schwarzer Kunststoff. Das Gestell im Gesicht ist ein Fremdkörper. Und doch auch ein Anker. Immer wieder greift Abdullah an den Rahmen, schiebt die Sehhilfe höher den Nasenrücken hinauf, als wolle er Brille und Gesicht zusammenstanzen. Als wolle er sich dieses Amalgam aus Plastik und Aluminium in den Kopf drücken. Der Zeigefinger presst gegen den Steg. Massiert die Stelle zwischen den wachen dunklen Augen. Erst behutsam, dann fester. Wenn der 17-Jährige grübelt, wenn er nach Worten sucht, legt sich die Stirn über dem Schwarz in Falten. Abdullah grübelt viel.
"Ungefähr bis zu den Bäumen da hinten." Mit ausladender Geste deutet Abdullah Al-Rajah auf die andere Seite des Tals, etwa zwei Kilometer weiter, wo sich Einfamilienhäuser an den Hang drücken. So weit sei die türkische Grenze entfernt gewesen, als er aus dem Bus stieg. Als er laufen musste. Als die Schüsse fielen. Wer geschossen hat, während seiner Flucht aus Syrien vor einem Jahr - Abdullah weiß es nicht. Wahrscheinlich Assads Leute, sagt er.

Abdullah Al-Rajeh, 17
Foto: SPIEGEL ONLINEJetzt sitzt Abdullah in der prallen Sonne, zupft und schiebt an seiner Brille. Auf einer Wiese vor den Türen des Josefs-Hauses, einer Einrichtung für Kinder aus schwierigen Familienverhältnissen im 25.000-Einwohner-Städtchen Olpe. Auf dem Platz nebenan sammeln sich die anderen Kinder und Jugendlichen. Sommerfest. Eine Gruppe geht Kanufahren, eine andere auf eine Mountainbike-Tour. Abends dann grillen, zelten und so. Lautes Kreischen, Lachen. Ein friedliches Fest. Nur Abdullah ist gerade an einem anderen Ort - zurück in Syrien.
"Vier, fünf Bomben pro Tag, auch direkt neben der Wohnung." Von seinen Freunden sind fünf gestorben, sagt er. Draußen vor der Wohnung, wo sie immer Fußball gespielt haben, oder beim Spaziergang durch die Straßen. Eine konstante Bedrohung, die irgendwann zermürbender Alltag wird. Im Sommer 2015 flieht Abdullah aus seinem Heimatort Al-Bab im Großraum Aleppo. Seine Mutter und sein großer Bruder statten ihn mit Geld aus. Ihre Angst um Abdullah ist groß. Ein Bus zur Grenze, rennen, um nicht erschossen zu werden, grober Umgang durch die Grenzsoldaten. Mehrere Stationen in der Türkei. Schleuser, Schlauchboot, Überfahrt. 1600 Dollar, eingepfercht zwischen 38 anderen.
Allein im Sauerland
Dann Griechenland, Balkan, Österreich, Deutschland. Wie genau die Reise verlief? "Hat mich nicht interessiert", sagt Abdullah. Die Hitze ist zu groß. Die meisten Jugendlichen sind mittlerweile unterwegs. Nur die Mädchen in der Tanzgruppe, weiter hinten auf der Wiese, üben schon ihren großen Auftritt heute Abend. "Taka Taka", schallt es über den Platz, dann setzt der Bass ein. Die Mädchen kreisen im Takt mit den Hüften. Lachen, kreischen.
Im Haus ist es kühler. Je tiefer es in das Gebäude geht, desto mehr schlucken die weiß getünchten Wände den Lärm von draußen. Das "Taka Taka" wird leiser und leiser, bis es nur noch dumpf in den kleinen Raum dringt, in dem Abdullah jetzt sitzt. Seine Hände streifen über die Wachstischdecke mit dem Blumenmuster vor ihm.
Wo der Rest seiner Familie ist? Die Mutter und seine kleine Schwester in der Türkei, ein Bruder ebenfalls. Einer sitzt in Griechenland fest. Zwei sind noch in Syrien. "Einen von ihnen haben sie bei einer Kontrolle aus dem Bus geholt", sagt Abdullah. Er sei verdächtigt worden, mit den Rebellen zu sympathisieren. Dann war er auf einmal weg. Ob er im Gefängnis sitzt oder tot ist? Abdullah zuckt mit den Schultern, zieht die Brille ab und reibt sich die Augen.
Nur wenige Sonnenstrahlen dringen in den Raum. Im Halbdunkel stehen vorne die Zutaten fürs Grillen in großen Mülltüten. Es riecht nach Brötchen und Keller. "Vor drei Jahren ist mein Papa gestorben", sagt Abdullah. "Bei einem Fliegerangriff."
Wie Abdullahs Vater starb
Muhammad Nasser Al-Rajeh war Grundschullehrer, nebenher arbeitete er als Radiotechniker in einem kleinen Geschäft im Einkaufszentrum von Al-Bab. Handys reparieren und Fernseher. Das Gespür für technische Geräte hat Abdullah von seinem Vater. Als er vor einem Jahr nach Deutschland kam, damals, als Angela Merkel im Fernsehen sagte "Wir schaffen das", hat Abdullah beschlossen, selbst Elektrotechniker zu werden. Gerade macht er die Berufsschule. Nach der Ausbildung will er studieren. Am liebsten Maschinenbau.
Eine Praktikumsstelle hat er auch. Bei einem Betrieb aus der Gegend. Doch nach den Anschlägen von Ansbach und Würzburg haben manche Angst vor Jungen wie Abdullah. Neulich war er mit seinem Chef bei einer Kundin zu Hause. "Sie hat sich über mich beschwert, weil ich zu lange die Leitungen draußen am Haus angeschaut habe", sagt Abdullah. Erst, als sein Chef die Frau beschwichtigt hatte, glaubte sie, dass der 17-jährige Syrer nichts Böses im Schilde führte. Dass er nur seinen Job als Elektriker machen will.
"Als die Bombe das Einkaufszentrum in Al-Bab getroffen hat, war mein Vater gerade im Elektroladen", sagt er und schiebt wieder die Brille auf den Nasenrücken. Mehrmals hat der damals 14-Jährige an diesem Tag versucht, seinen Vater zu erreichen. Aber das Telefon klingelte und klingelte und klingelte. Dann kommt der Cousin nach Hause: Sie haben deinen Vater gefunden. "Ich bin hingelaufen und er war schon aus den Trümmern raus. Voller Metallsplitter. Sein Kopf war hinten offen und das Gehirn war nicht mehr da."
Halt in Olpe
Das Josefs-Haus in Olpe hat eine lange Tradition. Im vergangenen Jahr haben sie dort ihr 150. Jubiläum gefeiert. Gegründet als Waisenhaus vom Franziskanerorden führt der kirchliche Träger mittlerweile 19 Wohngruppen in und um Olpe. "Auf Flüchtlinge waren wir nicht eingestellt, als der große Ansturm letztes Jahr begann", sagt Reinhard Geuecke.
Der 46-Jährige leitet die Einrichtung, die sich auf die Unterbringung von Kindern aus schwierigen Familienverhältnissen spezialisiert hat. 180 Kinder und Jugendliche zwischen vier und 21 Jahren sind in den Wohngruppen untergebracht. Unter ihnen sind mittlerweile 35 Flüchtlinge. "Vor einem Jahr war es nur einer", sagt Geuecke.
Die Arbeit mit Abdullah und den anderen UMFs bedeutet eine enorme Herausforderung. UMF, so kürzen die deutschen Behörden die unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge ab - von denen immer mehr nach Deutschland kommen. Aus den Krisengebieten in Syrien, Afghanistan und dem Irak. "Was wir ihnen geben können, ist ein Halt. Viele von ihnen sind schwer traumatisiert, kommen aber aus intakten Familienverhältnissen", sagt Geuecke. Hilflos sei man aber bei bürokratischen Hürden, wie dem Familiennachzug: "Da sind uns die Hände gebunden."
"Ohne Schuhe" steht an Abdullahs Tür
In einem großen Fachwerkhaus, weiter unten im Ort, ist Abdullah momentan untergebracht. Im grellen Sonnenlicht wirkt die Fassade künstlich, wie eine Kulisse aus "Forsthaus Falkenau". "Gruppe Martin" steht auf dem Schild vor dem Eingang, dahinter verbirgt sich ein ockergefliester Flur mit Rustikalmöbeln. "Abdullah", ruft eine helle Mädchenstimme durch das Treppenhaus. "Hallo Leah", sagt Abdullah. "Ich zeige nur schnell mein Zimmer." Leah kommt gerade aus dem Bad, ihre Haare in einem Handtuch versteckt. Gleich ist Grillfest.

Vokabeltraining in Abdullahs Zimmer
Foto: SPIEGEL ONLINEHinter der letzten Tür auf der linken Seite dann: grelles Grün. Das spartanisch eingerichtete Zimmer strahlt in den hellsten Farben. An den Wänden: Vokabeln und Zeichnungen - Männchen in verschiedenen Stimmungen. "Keine Ahnung", sagt das eine. Ein anderes: "Ich kann das nicht." An seine Tür hat der 17-Jährige ein Schild gehängt. "Ohne Schuhe", steht darauf. Schließlich betet er auf dem Boden.
Im kleinen Regal über dem Schreibtisch liegt ein Koran im Fach neben Computerspielen - "Assassin's Creed", "Brink" und "Grand Theft Auto". In Syrien hat Abdullah auch "Counter-Strike" gespielt. Hier noch nicht. In der Gruppe Martin ist Abdullah der einzige Flüchtling. Eine Maßnahme, durch die junge Flüchtlinge schneller Deutsch lernen sollen. "Zeltest du auch oben am Haupthaus?", fragt Leah noch, als Abdullah schon wieder an der Tür steht. "Mal sehen."
"Sie schießen und ich stehe in der Mitte"
Oben an der Festwiese trudeln nach und nach die Gruppen des Nachmittags wieder ein. Lachend erzählt ein Mädchen von der Kanufahrt. Ein Junge präsentiert stolz einen selbst gebastelten Stuhl. Abdullah sitzt im Schatten zweier Haselnusssträucher, etwas abseits. Der Geruch von Grillanzünder und Qualm zieht über den Platz. "Keiner hier weiß, was Krieg ist", sagt er, "keiner hat hier schon mal einen Toten gesehen."
Sein Handy klingelt. Eine Studentin aus Siegen. Abdullah sammelt Aufnahmen aus Syrien, besonders aus Aleppo, wo er früher jede Woche zu Besuch bei seinem Onkel war. Die Collagen sollen an der Universität ausgestellt werden. Selbst hat er kaum noch Bilder von früher. Nur noch eins von seinem Vater mit Raghad, seiner kleinen Schwester.
Als sie Muhammad Nasser Al-Rajeh aus den Trümmern gezogen haben, da hat er geweint. "So sehr wie noch nie in meinem Leben." Seit er in Deutschland ist, hat das aufgehört. "Ich weine nur noch selten", sagt Abdullah. Und auch die Träume sind weniger geworden. Einmal war einer vom Krieg dabei. Eine Gruppe von Männern kämpft gegen eine andere. "Sie schießen und ich stehe in der Mitte. Dann renne und renne ich." Unten läuft wieder der "Taka Taka"-Song. Der Bass wummert über den Platz, die Mädchen lassen ihre Hüften kreisen. Hier oben, im Schatten der Bäume, schiebt Abdullah die Brille tief in die Stirn.