
Minimalismus: Weniger ist mehr
Minimalisten Haste nix, biste was
Wer Alex Rubenbauer etwas schenken möchte, hat es schwer. Ein Windlicht, eine DVD, eine Pflanze - "sinnlosen Krempel entsorge ich nach kurzer Zeit", sagt der 23-jährige Abendschüler aus Rednitzhembach bei Nürnberg. Rubenbauer will nicht unhöflich sein. Aber konsequent. Konsequent minimalistisch.
Das bedeutet: kein Kram, der herumsteht und verstaubt. Nichts, das unnötig Raum einnimmt und von wesentlichen Dingen wie Schreiben, Lesen oder Gesprächen mit Freunden ablenkt. Und nichts, von dem man schon genug hat. "Hier sah es früher aus wie in einer Gärtnerei", sagt Rubenbauer, als er den Blick durch sein Zimmer streifen lässt. Übrig geblieben sind zwei kleine Topfpflanzen auf dem Fenstersims.
Ordner mit alten Unterlagen? Weg. Stapelweise Zeitungen und Zeitschriften? Im Altpapier. Statt drei Monitoren und zwei Fernsehern? Ein Rechner. Wenn ein neuer Gegenstand ins Haus kommt, muss dafür ein alter weg. Rubenbauer besitzt etwa 300 Dinge. Er ist dabei, Bücher zu verkaufen und zu spenden - danach werden ihm höchstens noch 200 Gegenstände gehören.
So seltsam Minimalismus in Zeiten von "Drei, zwei, eins…meins" und "Geiz ist geil" anmuten mag - allein ist Rubenbauer mit seiner Haltung nicht. "Minimalismus hat Zulauf", sagt Bernd Vonhoff, Vorsitzender des Berufsverbandes Deutscher Soziologinnen und Soziologen. Das Phänomen sei zwar schwer zu quantifizieren, ziehe sich aber durch alle Bevölkerungsschichten.
Vonhoffs Erklärung: Die Welt werde immer komplexer. Diese Komplexität zu bewältigen und zu reduzieren sei stressig. 20 Prozent der Berufstätigen würden Stresssymptome aufweisen. Wer sein Leben minimalistisch gestalte, reduziere den Druck. Das begriffen immer mehr Menschen. Deswegen seien Minimalisten "anerkannt und werden nicht mehr als Spinner bezeichnet".
Schlaf, Nahrung, eine Bleibe - mehr braucht es nicht
Wie weit man beim Ausmisten gehen muss, darüber sind sich die Minimalisten uneinig. Das Spektrum reicht von "materieller Totalverweigerer" bis "kritischer Konsumbürger", sagt Soziologe Vonhoff. Rubenbauer ist ein Vertreter der zweiten Sorte. Es sei albern, zu Hause auf Dinge zu verzichten, nur um sie anderswo ständig zu kaufen, etwa, wenn jemand ohne Kaffeemaschine ständig bei Starbucks sitze. Manche US-Autoren sagten, Minimalismus beginne erst, wenn man weniger als 100 Dinge besitze - "die zählen dann aber alle Socken als einen Gegenstand".
Rubenbauer hält nichts von solchen dogmatischen Grenzen. Ihm geht es darum, das Maß des für ihn Notwendigen zu finden und es nicht zu überschreiten, "sich auf die Dinge, Tätigkeiten und Beziehungen zu konzentrieren, die einem wirklich wichtig sind und alles andere zu streichen". Minimalisten machten sich nicht von materiellen Dingen abhängig, solange Grundbedürfnisse wie Schlaf, Nahrung und eine Bleibe gesichert seien.
Der Begriff "Minimalist" begegnete Rubenbauer erstmals in einem Text des US-Bloggers Derek Sivers . Dort hieß es: "Je weniger ich besitze, desto glücklicher bin ich." Das, sagt Rubenbauer, habe ihn fasziniert. Ein Aufenthalt im französischen Ort Taizé, Heimat eines ökumenischen Männerordens und jährlich Treffpunkt Hunderttausender Jugendlicher, habe ihm gezeigt, dass er auch in einem spartanischen Zimmer - Tisch, Stuhl, Bett - rundum zufrieden war, weil es eines im Überfluss gab: soziale Kontakte.
Zudem habe Minimalismus ohnehin gut zu seinem ordentlichen Wesen gepasst. Als er neben Sivers' Blog weitere Web-Seiten amerikanischer Minimalisten fand, begann er, sein Leben kontinuierlich minimalistisch auszurichten und selbst im Internet darüber zu schreiben .
Wie viel Arbeit ist der Sportwagen wert?
Kein Haus, kein Auto, kein Boot also? Nicht zwangsläufig, sagt der 23-Jährige. Minimalismus bedeute nicht, "dass man sich in irgendeine Lehmhütte setzt". Es könne minimalistisch sein, ein iPhone zu haben, schließlich ersetze es CDs, Fotoalben, Foto- und sogar Videokameras. Ein Computer mache DVD-Sammlungen und Bücherschränke überflüssig.
"Selbst wenn man sich einen Sportwagen kaufen würde, könnte man immer noch Minimalist sein und sagen, das ist es mir einfach wert." Klingt nach Beliebigkeit? Nicht für Rubenbauer. Entscheidend sei, wie viel Zeit und Arbeit man für das Auto zu investieren bereit sei. Den Wagen als Statussymbol zu haben, um mit dem Nachbarn zu konkurrieren, sei das falsche Motiv - und nicht minimalistisch. Dem stimmt auch Soziologe Vonhoff zu: "Es ist sehr stressig, seinen Status zu erhalten und zu verbessern."
Trotzdem stehen vor vielen Häusern Protzkarren. In Millionen Wohnungen gibt es Schränke voll mit altem Krempel. Nicht, weil man ihn noch braucht. Sondern weil das Loslassen schwerfällt. Fotoalben und Zeichnungen aus dem Kindergarten haben großen emotionalen Wert. Es war eine solche Mühe, im Studium kistenweise Literatur zusammenzutragen. Und der Pullover hat 1994 so viel gekostet und ist ja eigentlich auch noch brauchbar.
Rubenbauer hat viele Fotos von seiner Festplatte gelöscht. "Was wichtig ist, hat man im Kopf." Er empfiehlt, manches einfach wegzuwerfen oder zu spenden. Halbwegs wertvolle Dinge verkaufe man am besten - "es sei denn, man begreift ein volles Bankkonto als Belastung".
"Wenn die Einstellung stimmt, ist der Prozess leicht"
Wie verzichtbar selbst scheinbar unersetzliche Dinge sind, zeigte sich für Rubenbauer, als sein Computer abstürzte. Vieles vermeintlich Wichtige war unwiederbringlich verloren - und es zeigte sich: "Ich vermisse eigentlich nichts."
Grenzen gibt es freilich auch für Rubenbauer. Seinen Rechner würde er nicht abschaffen - allerdings nicht, weil man darauf Musik, Fotos oder Unterlagen digital archivieren kann. "Ich weiß einfach, die Sachen sind da." Ob digital oder auf Papier mache keinen großen Unterschied.
Und die Versuchung, Dinge zu kaufen? Die Abhärtung dagegen beginne mit dem Eingeständnis, "wie viele Dinge beispielsweise nur der Ablenkung von mangelnden Sozialkontakten gedient haben". Soziologe Vonhoff rät, sich immer zu fragen: "Was benötige ich?" Dann merke man: "Ich brauche das 16. Paar Schuhe nicht." Minimalistisch zu leben sei eben auch Übungssache. "Wenn die Einstellung stimmt, ist der Prozess leicht", sagt Vonhoff.
Mit anderen Worten: Die Vorteile einer Shoppingtour sind zwar unmittelbar greifbar, wogegen es eine Weile dauert, bis die Vorzüge eines minimalistischen Lebenswandels sichtbar werden. Dafür bleibt das gute Gefühl bei Letzterem auch, wenn das beim Hosenkauf empfundene Glück schon längst verflogen ist.
Der größte Vorteil des Minimalismus ist für Rubenbauer die Freiheit. "Man gewinnt die Kontrolle über sein Leben zurück, alles wird klarer, übersichtlicher, einfacher."
Und manchmal hat Minimalismus auch ganz handfeste Vorzüge. Wenn er Besuch habe, sagt Rubenbauer, bekomme er oft zu hören: "Hier ist es aber schön ordentlich!"