Missbrauch im Erzbistum München-Freising Kanzlei berichtet von Hunderten Opfern – und belastet Papst Benedikt XVI.

Benedikt XVI.: Was wusste der emeritierte Papst, der das Münchner Erzbistum in den Achtzigern leitete?
Foto:Vincenzo Pinto / AFP
Im Missbrauchsskandal in der katholischen Kirche belastet das Gutachten einer Münchner Rechtsanwaltskanzlei Papst Benedikt XVI. schwer. Als Erzbischof von München und Freising (1977 bis 1982) sei Joseph Ratzinger in vier Fällen Fehlverhalten im Umgang mit sexuellem Missbrauch vorzuwerfen, sagte Martin Pusch von der Anwaltskanzlei Westpfahl Spilker Wastl (WSW), die das Gutachten im Auftrag des Bistums erstellt hat.
Benedikt XVI. wies die Vorwürfe laut Pusch in allen Fällen zurück. Er habe umfangreich Stellung zu den Vorwürfen genommen und fehlende Kenntnis geltend gemacht. Das sei jedoch mit ihrer Aktenkenntnis schwer vereinbar, so die Juristen.
Besonderen Raum nahm der Fall des Priesters Peter H. ein, von den Gutachtern nur als X. bezeichnet. Dieser Geistliche aus Nordrhein-Westfalen soll vielfach Jungen missbraucht haben und wurde zur Amtszeit Ratzingers nach Bayern versetzt, wo er Jahre später rechtskräftig wegen Kindesmissbrauchs verurteilt wurde und immer wieder rückfällig geworden sein soll.
Über die Aufnahme des Priesters in München war in einer Sitzung im Januar 1980 entschieden worden. In einer Stellungnahme an die Gutachter gab Papst Benedikt nun an, er sei bei dieser Sitzung nicht anwesend gewesen. Das habe sie überrascht, sagte Anwalt Ulrich Wastl stellvertretend für das Gutachterteam.
Er verwies auf die Kopie des Protokolls jener Ordinariatssitzung, in dem Benedikt nicht als abwesend geführt werde. Laut dem Protokoll berichtete Ratzinger in der Sitzung unter anderem von Gesprächen mit Papst Johannes Paul II., so Wastl. Er halte Benedikts Angabe, er sei in dieser Sitzung nicht anwesend gewesen, für »wenig glaubwürdig«.
Kardinal Marx Fehlverhalten in zwei Fällen vorgeworfen
Die Vorwürfe gegen Papst Benedikt erhob die Kanzlei im Rahmen der Vorstellung ihres Gutachtens zu sexuellem Missbrauch im Erzbistum München und Freising, bei dem das Verhalten der katholischen Diözese schlecht wegkommt. Auch in jüngster Zeit habe kein »Paradigmenwechsel« mit dem Fokus auf die Betroffenen stattgefunden, sagte Pusch. »Bis in die jüngste Vergangenheit und teils auch heute noch begegnen Geschädigten Hürden.«
»Sexueller Missbrauch in der katholischen Kirche ist kein Phänomen der Vergangenheit«, sagte Pusch. Der jüngste Rückgang der absoluten Zahl der Fälle könne auch schlicht mit der abnehmenden Zahl an Priestern zusammenhängen. Er und seine Kollegen setzten neben Amts- und Personalakten auch auf Dutzende Zeitzeugenbefragungen und bemühten sich um Stellungnahmen der kirchlichen Verantwortungsträger zu den Fällen, diese seien auch an die Staatsanwaltschaft übergeben worden.
Ein aktives Zugehen auf die Opfer gebe es nicht. Die »Wahrnehmung der Geschädigtenbelange« sei »auch nach 2010 unzulänglich«. Pusch sieht ein »generelles Geheimhaltungsinteresse« und den »Wunsch, die Institution Kirche zu schützen«.
Die Studie listet mindestens 497 Opfer auf. Dabei handele es sich überwiegend um männliche Kinder und Jugendliche im Zeitraum zwischen 1945 und 2019. Mindestens 235 mutmaßliche Täter gab es laut der Studie – darunter 173 Priester und neun Diakone.
Allerdings sei dies nur das sogenannte Hellfeld. Es sei von einer deutlich größeren Dunkelziffer auszugehen. Es bestehe kein Grund zur Annahme, dass das Ausmaß des Missbrauchs in Deutschland insgesamt anders sein sollte als in Frankreich, wo inzwischen von Hunderttausenden Missbrauchsopfern der Kirche die Rede ist.
Neben Papst Benedikt werden auch weitere Würdenträger der Erzdiözese schwer beschuldigt. Der amtierende Kardinal Reinhard Marx soll mindestens in zwei Verdachtsfällen fehlerhaft mit Missbrauchsfällen umgegangen sein. Es gehe dabei um Meldungen an die Glaubenskongregation in Rom.
Es sei im Fall von Marx trotz der Vielzahl von Meldungen nur in »verhältnismäßig geringer Zahl« festzustellen gewesen, dass sich der Kardinal überhaupt unmittelbar mit Missbrauchsfällen befasst habe, sagte Pusch.
Marx habe sich auf eine »moralische Verantwortung« zurückgezogen und die direkte Verantwortung im Generalvikariat gesehen. Für die Gutachter greift das zu kurz: Was, wenn nicht sexueller Missbrauch, sei Chefsache? Erst ab dem Jahr 2018 habe es bei Marx eine geänderte Haltung gegeben. 2021 hatte er Papst Franziskus schließlich um seinen Rücktritt gebeten, dieser lehnte jedoch ab.
Kleriker trotz »einschlägiger Verurteilung« weiter in der Seelsorge
Marx selbst nahm nicht an der Vorstellung teil. »Er hat sich entschieden, dieser Einladung nicht zu folgen«, sagte die Anwältin Marion Westpfahl. »Wir bedauern sein Fernbleiben außerordentlich.« Marx hat für den Nachmittag eine Stellungnahme angekündigt.
An seiner Stelle nahm der Generalvikar des Erzbistums, Christoph Klingan, das Gutachten der Anwaltskanzlei entgegen. Er sagte: »Meine Gedanken sind zur Stunde zunächst bei den Betroffenen, die durch Mitarbeiter der Kirche schwerstes Leid erfahren haben. Mich beschämt das sehr.«
Auch dem früheren Erzbischof Kardinal Friedrich Wetter wirft das Gutachten Fehlverhalten in 21 Fällen vor. Wetter habe die Fälle zwar nicht bestritten, ein Fehlverhalten seinerseits aber schon, sagte Pusch. Anwalt Wastl sprach von einer »Bilanz des Schreckens«.
Das Gutachten kommt darüber hinaus auch noch zu dem Schluss, dass viele Priester und Diakone auch nach Bekanntwerden entsprechender Vorwürfe weiter eingesetzt worden seien. 40 Kleriker seien weiter in der Seelsorge tätig gewesen beziehungsweise sei dies geduldet worden. Bei 18 davon erfolgte dies sogar nach »einschlägiger Verurteilung«, wie Pusch sagte. Insgesamt seien bei Dutzenden Klerikern »gebotene Maßnahmen mit Sanktionscharakter« unterblieben.