Missbrauchsvorwürfe Direktorin der Odenwaldschule verspricht Aufklärung

Schulleiterin der Odenwaldschule Margarita Kaufmann: "Wenn Sie zu Hause ein Problem haben, gehen Sie auch nicht gleich zum Nachbarn"
Foto: DDPHeppenheim - Die Leiterin der Unesco-Modellschule, Margarita Kaufmann, stellte sich am Montag um 15 Uhr in Heppenheim den Fragen der Journalisten. Sie sagte, nach dem Medienrummel der vergangenen Tage sei man "an einem Punkt angekommen, wo sehr viel Offenheit vielleicht helfen kann". Zur Erklärung, warum die Schule so spät auf die Missbrauchsvorwürfe regiert habe, sagte sie: "Wenn Sie zu Hause ein Problem haben, gehen Sie auch nicht gleich zum Nachbarn."
Dennoch habe das öffentliche Interesse auch eine gute Seite: "Viele rufen uns an und berichten." Die Schule habe am gestrigen Sonntag zwei Anrufe von ehemaligen Schülern erhalten, heute zwei weitere. Derzeit gehe man dennoch unverändert von insgesamt 24 Missbrauchsfällen in den Jahren 1970 bis 1985 aus, auch weil neue Daten erst ausgewertet werden müssten.
Kaufmann erklärte auf die Frage eines Journalisten, es gebe bisher nur einen Hinweis darauf, dass es auch nach 1985 noch zu Missbrauch gekommen sein soll.
Die Direktorin gab zu, dass die Schule in der Vergangenheit nicht ausreichend zu den Vorwürfen des sexuellen Missbrauchs recherchiert habe und entschuldigte sich bei den Opfern. Man werde in Zukunft offensiv mit dem Problem umgehen, unter anderem einen schulinternen Ausschuss zum Schutz vor sexualisierter Gewalt gründen. Außerdem solle eine Hotline für ehemalige Schüler und Missbrauchsopfer eingerichtet werden. Zwei Mitarbeiter der Schule stünden dann für Gespräche bereit. Ausschließen könne man sexuellen Missbrauch aber nie.
Ende des Monats soll es eine außerordentliche Sitzung des Trägervereins geben, dann werde man "sehen wie es weitergeht". Dazu, ob der Schulvorstand, wie zunächst angekündigt, zurücktreten werde, äußerte sich Kaufmann nicht.
Ein Mädchen unter den Opfern
Wie die "Frankfurter Rundschau" unter Berufung auf frühere Schüler berichtete, sollen sich in einem Fall zwei Lehrer ein Mädchen "geteilt" haben. "Es ging da in all den Jahren sehr freizügig zu", wurde der frühere Schüler zitiert. In mehreren Fällen sollen Lehrer ihre jugendlichen Geliebten später geheiratet haben.
Ein weiterer Absolvent der Odenwaldschule berichtete in der "Frankfurter Rundschau" von einer "Anti-Spießer-Hysterie", welche die Übergriffe in den siebziger und achtziger Jahren erst möglich gemacht habe. Wer seinerzeit etwas bemerkt und gesagt habe, sei "sofort als Spießer geächtet worden - das war grauenhaft", wurde er zitiert.
Eine unabhängige Kontrollinstanz habe es nicht gegeben. Im Grunde hätte die Schulleitung eingreifen müssen, dort aber habe der Rektor gesessen, also derjenige, der die systematischen Übergriffe erst möglich gemacht habe. "Und da keine Krähe der anderen ein Auge aushackt, konnte dem niemand Einhalt gebieten", wurde der Altschüler zitiert.
"Sexuelle Dienstleister"
Am Wochenende war bekanntgeworden, dass an der renommierten Schule für Reformpädagogik zwischen 1970 bis 1985 bis zu hundert Schüler von dem Schulleiter und mindestens drei Lehrern missbraucht worden sein sollen. Ehemalige Schüler berichteten der Zeitung davon, dass sie als "sexuelle Dienstleister" für ganze Wochenenden eingeteilt und zu Oralverkehr gezwungen wurden. Einzelne Pädagogen hätten ihren Gästen Schüler zum sexuellen Missbrauch überlassen.
Schon 1999 hatten zwei frühere Schüler den ehemaligen Schulleiter des sexuellen Missbrauchs beschuldigt. Das Ermittlungsverfahren war aber wegen Verjährung eingestellt worden. Direktorin Kaufmann sagte der "Frankfurter Rundschau": "Es war eine Unterlassung und ein grober Fehler, dass die Schule damals nicht nachgeforscht hat."
Die Odenwaldschule ist in freier Trägerschaft und hat seit den sechziger Jahren den Status einer Unesco-Modellschule. Derzeit hat sie gut 200 Schüler. Besonderheiten sind das Lernen inmitten der Natur, die Möglichkeit, neben dem Abitur auch berufliche Abschlüsse zu erwerben sowie das Leben in Kleingruppen: Diese werden als "Familien" bezeichnet, "Familienoberhaupt" ist der Klassenlehrer. Eine Klasse besteht aus 16 bis 17 Schülern. Die Jahresgebühr für das laufende Schuljahr gibt die Schule mit 26.640 Euro an.
Debatte um Verjährungsfristen
Nach den zahlreichen Skandalen in kirchlichen Einrichtungen und weltlichen Schulen ist ein Streit über die Verjährungsfristen entbrannt.
Während die bayerische Justizministerin Beate Merk (CSU) am Montag eine Verlängerung der Fristen auf mindestens 30 Jahre forderte, nannte Bundesjustizminister Sabine Leutheusser-Schnarrenberger einen solchen Schritt nicht sinnvoll. Zugleich warf die FDP-Politikerin dem Vatikan Behinderung bei der Aufarbeitung der Skandale um sexuellen Missbrauch in katholischen Einrichtungen vor.
"Es ist dringend notwendig, dass die Fristen verlängert werden", sagte Merk in München. Die Opfer seien oft nicht in der Lage, frühzeitig auf die Täter hinzuweisen. "Was das Zivilrecht bietet, ist lächerlich." Sie sprach sich für eine Verjährungsfrist von mindestens 30 Jahren aus. Als Vorbild nannte sie die Schweiz, wo solche Delikte gar nicht verjährten.
CDU-Generalsekretär Hermann Gröhe sagte, seine Partei sei "offen gegenüber Vorschlägen, die auf eine Verlängerung der Verjährungsfristen hinauslaufen". Auch Bundesbildungsministerin Annette Schavan (CDU) plädierte für eine Verlängerung der Fristen. Dies sei sinnvoll, weil die Erfahrung zeige, dass oft erst nach vielen Jahren über Missbrauch gesprochen werde und die Täter womöglich straffrei blieben, sagte Schavan der "Passauer Neuen Presse".
Dem widersprach Leutheusser-Schnarrenberger vehement. Eine Verlängerung der Verjährungsfristen sei kein Allheilmittel, sagte sie im Deutschlandfunk. Eine Verlängerung etwa um zehn Jahre nütze nichts, wenn die Opfer erst nach 40 oder 50 Jahren an die Öffentlichkeit gehen wollten. Und die Forderung, sie ganz aufzuheben, halte sie aus grundsätzlichen Überlegungen nicht für richtig. Denn es sei sehr schwierig, etwa 40, 50 Jahre nach einer Tat noch wirklich objektive Sachverhalte zu ermitteln und Zeugen aufbieten zu können, sagte die Ministerin.
"Der Gesetzgeber geht davon aus, dass alte Geschichten irgendwann besser ruhen sollten", erläutert der Hannoveraner Kriminologe Christian Pfeiffer. Zum einen, weil es mit der Zeit immer schwerer werde, eine Straftat angesichts verblassender Erinnerungen und wegsterbender Zeugen auch zu beweisen. "Und zum anderen gibt es diese Verjährungen, weil die Zeit ja angeblich alle Wunden heilt." Doch gerade bei sexuellem Missbrauch treffe dies nicht zu: "Die Zeit heilt die Wunden oftmals nicht. Manchmal werden die Wunden mit den Jahren sogar noch größer", so Pfeiffer.