Gutachten zur Münchner Bluttat "Sie wollen wissen, warum ihre Kinder getötet wurden"

David S. erschoss im Juli 2016 in München neun Menschen und tötete sich dann selbst. War die Tat ein Amoklauf oder ein rechtsextremer Anschlag? Gutachter bewerten die Beweislage anders als die Ermittler.
Gedenken am Olympia-Einkaufszentrum (Archiv)

Gedenken am Olympia-Einkaufszentrum (Archiv)

Foto: Peter Kneffel/ dpa

Cumali Naz hat große Erwartungen an diesen Tag. Vor etwas mehr als einem Jahr erschoss der 18-jährige David S. im Münchner Olympia-Einkaufszentrum neun Menschen, fast alle kamen aus der Türkei und Südosteuropa. Naz erlebte damals den Schmerz einer Opferfamilie hautnah, war auf der Beerdigung des Teenagers, mit dessen Onkel er eng befreundet ist. "Die Opfer wollen wissen, was wirklich hinter der Tat steckt und warum ihre Kinder getötet wurden", sagt der Deutsch-Türke, der für die SPD im Stadtrat sitzt.

Zahlreiche Münchner Politiker glaubten ebenso wie Naz und die Opferanwälte schon früh an eine rechtsextreme Tat - die bayerischen Sicherheitsbehörden sahen bei dem Attentäter dagegen zwar durchaus eine rassistische Gedankenwelt, gingen aber schnell von einem primär nicht politisch motivierten Amoklauf aus.

Um die tatsächlichen Hintergründe der Tat zu beleuchten, beauftragte die Stadt München drei Gutachter, die ihre Studien nun im Rathaus vorstellten. Und zumindest zwei von ihnen kommen zu anderen Schlussfolgerungen als die Sicherheitsbehörden.

Das Geschehen könne "als Akt eines allein handelnden Terroristen" bezeichnet werden, heißt es im Gutachten des Direktors des Jenaer Instituts für Demokratie und Zivilgesellschaft, Matthias Quent. Dabei seien allerdings persönliche und politische Faktoren "untrennbar miteinander verschmolzen". Im Ergebnis müsse die Tat zwingend als "politisch motivierte Kriminalität" eingeordnet werden.

"Er war sogar Klassensprecher"

Der Politikwissenschaftler Florian Hartleb hält es für falsch, von einem Amoklauf zu sprechen. "Meines Erachtens ist das Rechtsterrorismus", sagte er. David S. sei ein sogenannter "einsamer Wolf" gewesen, der einen Anschlag verübt habe. Der Attentäter habe bis zuletzt am Leben teilgenommen, habe etwa einen Ausbildungsplatz in Sicht gehabt. Der Täter habe die Opfer bewusst ausgesucht - wegen deren südosteuropäischem Hintergrund. Hartleb kritisierte die Fixierung der Ermittler bei der Ursachenforschung scharf: "Die Mobbing-These ist weitaus weniger zentral." David S. sei nicht so stark isoliert gewesen wie behauptet. "Er war sogar Klassensprecher."

Offiziell waren die Morde jedoch ein Amoklauf, kein Anschlag. Bayerns Innenministerium sieht bislang keinen Fall von Rechtsterrorismus. Vom Verfassungsschutz wurde David S. als "psychisch kranker Rächer" klassifiziert. Der Deutsch-Iraner habe ideologische "Anleihen aus dem Bereich Rechtsextremismus" gehabt, aber die persönliche Kränkung habe stets im Vordergrund gestanden, schrieben die Staatsanwaltschaft und das bayerische Landeskriminalamt in ihrem Abschlussbericht. Sie zogen ein klares Resümee: "Es ist nicht davon auszugehen, dass die Tat politisch motiviert war."

Tatsächlich hat auch die Staatsanwaltschaft forensische Gutachter beauftragt. Nach deren Einschätzung standen laut Anklagebehörde die Kränkungen durch langjähriges Mobbing im Vordergrund.

Der dritte von der Stadt beauftragte Gutachter Christoph Kopke listet in seinem Gutachten zwar ebenfalls "gravierende Punkte" auf, die für einen Amoklauf aus persönlichen Motiven sprechen würden. Kopke betont aber, dass die Tat auch Elemente enthalte, die auf eine politische Motivation von David S. hinweisen würden. Der Schüler habe Migranten dafür verantwortlich gemacht, dass ihm Unrecht widerfahren sei. Zudem fiel die Tat auf den fünften Jahrestag des Breivik-Attentats in Norwegen. Die Auswahl der Opfer sei nach rassistischen Kriterien erfolgt. Somit sei die Tat als rechtsextremes Hassverbrechen einzustufen.

Klar ist: David S. war zwar nicht in der rechten Szene eingebunden, fiel jedoch mehrfach durch rassistische Äußerungen in Online-Chats auf, soll laut Ermittlern bei einem Psychiatrie-Aufenthalt sogar den Hitler-Gruß gezeigt haben. Während seiner Bluttat rief er: "Ich bin kein Kanake, ich bin Deutscher!"

Polizeieinsatz nach den Schüssen in München (Archiv)

Polizeieinsatz nach den Schüssen in München (Archiv)

Foto: Matthias Balk/ dpa

Derlei haben die Ermittler akribisch dokumentiert, was auch die Gutachter nicht bestreiten. Doch sie gewichten die vorhandenen Fakten anders.

Oberstaatsanwältin Gabriele Tilmann sagte im Rathaus, der Täter sei einer rechtsextremen Einstellung gefolgt, doch seien die Kränkungen "tatauslösend" gewesen. "Wir sehen nach wie vor das vom Täter erlittene Mobbing im Vordergrund." Der Leiter der Sonderkommission des Bayerischen Landeskriminalamts (LKA), Jürgen Miller, sagte, der Mehrfachmord sei "von Rache und Wut geleitet" gewesen.

"Es kommt Bewegung in die Sache"

Kritik kommt von den Grünen. Es spreche alles für ein rechtsextremistisches Tatmotiv, sagte die bisherige Innenexpertin im Bundestag, Irene Mihalic. Doch die Sicherheitsbehörden verfielen "in alte Denkmuster, nach denen auch der Rechtsterrorismus des NSU jahrelang unentdeckt blieb". Bayerns-Linken Chef Ates Gürpinar spricht auf Anfrage gar von "Vertuschung".

Dabei ist das bayerische Innenministerium durchaus gesprächsbereit. Man wolle den Inhalt der Gutachten in die eigene Bewertung "aufnehmen", LKA-Mann Miller.

Münchens Oberbürgermeister Dieter Reiter (SPD) zeigte sich jedenfalls zufrieden mit dem Ergebnis der Anhörung. Dies sei ein "wichtiger Baustein im Prozess der Gesamtbewertung dieser schrecklichen Tat".

Für Cumali Naz haben sich seine Erwartungen erfüllt: "Es kommt Bewegung in die Sache."

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