
Suche nach dem Nazi-Zug: Anziehend wie Loch Ness
Nazi-Zug in Polen Eine Stadt im Goldrausch
Keiner hat den "goldenen Zug" gesehen, die Stadt Walbrzych hat ihn aber schon auf T-Shirts drucken lassen. Darauf sieht man ihn, wie in einem Actionfilm, aus einem Tunnel kommen, darüber flattern Fledermäuse, dahinter ruht das Schloss Ksiaz, in dessen unterirdischem Tunnelsystem jener Zug der Legende nach versteckt sein könnte.
Unter der Collage steht ein Hashtag, #wAUbrzych. "Au" ist das chemische Kürzel für Aurum, Gold. Darunter, in Großbuchstaben: "Explore Walbrzych", der Name eines Touristenprogramms, das es seit dem vergangenem Wochenende gibt.
Walbrzych - dieser Name wabert seit zwei Wochen durch die Medien der Welt. Zwei Schatzsucher, ein Deutscher und ein Pole, die anfänglich anonym blieben, gaben damals an, per Georadar einen sagenumwobenen Nazi-Zug, der Gold transportiert haben könnte, unter der Erde von Walbrzych gefunden zu haben; am Kilometerstein 65 der Bahnstrecke zwischen den Städten Wroclaw und Jelenia Gora.
Die Legende um den Goldzug ist alt. Sie geht zurück auf die Zeit, als in Niederschlesien die Nationalsozialisten infolge des Bauvorhabens "Riese" Tunnel graben ließen; zum Beispiel unter eben jenem Schloss Ksiaz in Walbrzych, das als ein Quartier Hitlers gedacht war, von dem aus Aufzüge in die sichere Tiefe führen sollten.
Nicht alle dieser Tunnel, die der damalige Reichsminister für Rüstung und Kriegsproduktion, Albert Speer, im Auftrag Hitlers bauen ließ, sind heute erschlossen. Unterlagen, die das Projekt "Riese" dokumentieren, sind in den Wirren des Krieges verschwunden. Es gibt kaum Informationen, dafür aber viele Theorien und Mythen.
15 Minuten Ruhm
Was nun rund um die niederschlesische Stadt Walbrzych, 120.000 Einwohner, passiert, fühlt sich ein bisschen unwirklich an. Es ist eine Geschichte über die 15 Minuten Ruhm eines Ortes. Walbrzych ist - jetzt und vielleicht nur kurz - ein Loch Ness unserer Zeit.
Vergangene Woche berichteten polnische Medien von einem "touristischen Boom" in der alten Industriestadt, die auf eine lange Tradition des Steinkohlebergbaus zurückblickt und heute ein Zentrum der Keramikindustrie und Autoproduktion ist. Eine Umfrage bei Hotels in Walbrzych bestätigt die Meldungen. Die Anzahl der Gäste habe sich seit der Meldung des Nazi-Zuges verdoppelt bis verdreifacht, heißt es. Viele kämen aus dem Ausland, vor allem aus Deutschland.
"Ja, es kommen viele Touristen und Journalisten", sagt auch Arkadiusz Grudzien, "es kommen aber auch sehr viele Schatzsucher." Schatzsucher, von denen man zwar wissen will, dass sie hier sein sollen, die man aber nicht sieht, weil sie nicht gesehen werden wollen. Eine klandestine Parallelwelt, die neben dem lauten touristischen Trubel existiert.

Tadeusz Slowikowski: Der Schatzsucher aus Walbrzych
Grudzien, dunkle Augenringe, häufiger Blick aufs Handy, ist Sprecher des Bürgermeisters von Walbrzych. Er hat sich gerade in ein Zimmer im ersten Stock des Rathauses gesetzt, umringt von Prospekten, Zeitungen und Budgetaufstellungen, im Hintergrund läuft das Radio, wo auch immer wieder der Zug erwähnt wird. Vorher lief Grudzien von Sitzung zu Telefonat zu Konferenz, ein normaler Rhythmus, seit über den Nazi-Zug berichtet wird.
Klarheit gibt es erst im Monaten
Grudzien betont immer wieder, wie wenig man eigentlich wisse. Und dass davon vieles geheim sei, etwa die Unterredungen zwischen den Schatzsuchern und den Behörden. Aber wieso wirbt die Stadt dann mit dem "goldenen Zug"? "Ehrlich gesagt wären wir blöd, wenn wir das nicht machen würden." Walbrzych nutzt die Gunst der Stunde.
Klarheit darüber, ob ein Nazi-Zug voller Gold, ob überhaupt ein Zug oder irgendwas unter der Erde am 65. Kilometer liegt, kann es frühestens in Wochen, eher wohl in Monaten geben. Fragt man die Bürger in Walbrzych, Passanten auf den teils restaurierten, teils verfallenen Straßen nach dem "goldenen Zug", schwanken die Antworten vor allem zwischen Skepsis und Amüsement. "Es wird viel Lärm darum gemacht", sagt ein älterer Mann im Zentrum der Stadt. "Es kommen zwar mehr Touristen, vor allem Deutsche. Aber ob was an der Geschichte dran ist?" Eine Frau entgegnet: "Immerhin kennt bald jeder den Namen Walbrzych, kann ihn aber nicht aussprechen." Beide lachen.
Nahe dem 65. Kilometer, umgeben von Kleingartenanlagen und Wald, führt Dorota Wota eine Gruppe Touristen. Wota, eine pensionierte Lehrerin, laut und agil, lebt seit über 40 Jahren in Walbrzych. Sie sagt: "Endlich passiert hier mal was!" Vor Tagen hat sie schon eine deutsche TV-Moderatorin herumgeführt, das betont sie mehrfach, ein Höhepunkt in ihrem Portfolio. Für die spontanen Führungen nimmt sie kein Geld, sie verteilt selbst gebackene Windbeutel.
Walbrzych wird zur Touristenattraktion
Ihre jetzige Gruppe besteht aus Polen, die angereist sind, um einen Hauch des Zuges mitzubekommen, einen Hauch von nichts. Einer ist über 200 Kilometer gefahren, zwei kommen aus Wroclaw. Sie laufen durch das Gestrüpp, Wota zeigt auf die Bäume, die am Montag aus noch ungeklärter Ursache gebrannt haben, auf die Stellen, an denen in der Vergangenheit gegraben wurde. Wie für die Touristen das Mysterium um den Zug ein Highlight ist, sind es für Wota die Touristen.
Der angebliche Fundort am 65. Kilometer ist inzwischen mit Absperrband gesichert, Wachleute der polnischen Bahn und Polizisten harren dahinter aus, auch nachts. "Zu viele Leute wollen hier Selfies machen", sagt ein Wachmann. Zuvor hatten die Behörden gewarnt, das Gebiet um den angeblichen Fundort könne vermint sein. Viel mehr tut sich gerade nicht an dem Punkt, über den jeder spricht. Die Züge fahren weiter.
Am Freitag lüftete sich eines der kleineren Geheimnisse rund um den angeblichen Fund. Die zwei Schatzsucher, die ihn gemeldet hatten und zunächst anonym geblieben waren, gaben ihre Identität preis. Piotr Koper und Andreas Richter. "Wir besitzen unwiderlegbare Beweise für die Existenz des Zuges", sagten sie. Und weiter: "Wir denken, dass der Zug, als eine beispiellose Touristenattraktion, in Niederschlesien bleiben sollte." Auf Anfrage von SPIEGEL ONLINE wollte sich keiner der beiden äußern.
Was die Menschen nach Walbrzych zieht, sind wohl nicht bloß die Reizworte Nazi und Gold, es sind nicht nur die Unklarheiten und die Ungereimtheiten, es sind auch das Verbotene und der Do-it-yourself-Faktor an der Geschichte um den Zug: Theoretisch kann sich ja jeder nach Walbrzych aufmachen, zur Bahnstrecke gehen, in den umliegenden Wäldern nach dem Zug oder nach anderen Schätzen suchen, obwohl oder gerade weil das stellenweise nicht erlaubt ist.
Und es ist wohl, in einer Zeit der Nachrichtenbilder, die oft von Ereignissen Zeugnis ablegen, die klarer in Zeit und Raum anzusiedeln sind, die eine deutlichere Gestalt haben, schlicht etwas, das man sich vorstellen muss. Etwas, von dem man nicht weiß, wann und ob man es je sehen wird.