Neuer EKD-Ratsvorsitz Jetzt müssen die Frauen liefern

Neues Führungsduo im EKD-Ratsvorsitz: Vorsitzende Annette Kurschus (r.) und Stellverteterin Kirsten Fehrs (l.)
Foto: Sina Schuldt / dpaDieser Artikel gehört zum Angebot von SPIEGEL+. Sie können ihn auch ohne Abonnement lesen, weil er Ihnen geschenkt wurde.
Es klingt nach einem Aufbruch: Mit der Wahl von Annette Kurschus an die Spitze des Ratsvorsitzes der evangelischen Kirche arbeiten jetzt gleich drei Frauen an exponierter Stelle im Riesenorganismus EKD. Bischöfin Kirsten Fehrs wurde zur Stellvertreterin berufen, die gerade 25-jährige Anna-Nicole Heinrich schon im Mai zur Präses der Synode.
Doch so richtige Aufbruchstimmung will sich nicht einstellen, sind Kurschus und Fehrs doch Vertreterinnen der alten Garde, die seit Langem Posten in der Hierarchie innehaben. Die Herausforderungen sind immens – Kurschus sprach nach ihrer Wahl von »Auftrag und Ansporn zugleich«.

Mohssen Assanimoghaddam / dpa
Die EKD-Ratsvorsitzende ist oberste Repräsentantin der evangelischen Kirche. Sie vertritt die Interessen von rund 20,2 Millionen evangelischen Christen und Christinnen. Annette Kurschus ist die zweite Frau im Ratsvorsitz nach Margot Käßmann, die 2010 nach nur wenigen Monaten im Amt wegen einer Autofahrt unter Alkoholeinfluss abgetreten war.
Kurschus kam am 14. Februar 1963 in Rotenburg an der Fulda zur Welt, sie ist ledig und kinderlos. Ihr Vater war evangelischer Pfarrer. Die Familie zog ins hessische Obersuhl und schließlich nach Siegen. Damit wuchs Kurschus in unterschiedlichen protestantischen Milieus auf, sowohl mit lutherischer als auch reformierter Prägung.
Nach dem Theologiestudium kehrte Kurschus 1989 als Vikarin nach Siegen zurück. Dort durchlief sie verschiedene Stationen bis zur Superintendentin. Seit März 2012 ist sie Präses der westfälischen Landeskirche.
Die 58-Jährige kündigte an, sich dem Klima- und Umweltschutz widmen zu wollen, das von Gott geschenkte Leben auf der Erde sei »gefährdet wie nie«. Dass die Bewahrung der Schöpfung nicht nur Engagement, sondern auch Geld kostet, ist für sie gesetzt: »Wenn wir hier konsequent bleiben wollen, wirklich konsequent, dann wird uns das einiges kosten.«
Die Erwartungen an die Kirche seien »immer noch und immer neu groß«, sagte Kurschus. Wer wollte da widersprechen, bedeutet doch die moralische Fallhöhe der Institution eine immense Verantwortung.
»Bei der Missbrauchsaufarbeitung versagt«
Vor allem im Umgang mit sexuellem Missbrauch haben sich die Protestanten in den vergangenen Jahren allerdings nicht mit Ruhm bekleckert. »Die evangelische Kirche ist bis heute kaum einen Schritt weiter in der Missbrauchsaufarbeitung«, beklagt Detlev Zander, Gründer des »Netzwerks Betroffenenforum« und Synodenteilnehmer. Die Protestanten versteckten sich weiter hinter den großen Skandalen der katholischen Konkurrenz und nährten das Narrativ von »Einzelfällen«.
Er habe die protestantischen Betroffenheitsbekundungen satt, die ewigen Beteuerungen, denen keine konkreten Veränderungen folgten. »Es fehlt der Wille«, so Zander.
Harsche Kritik übt er am scheidenden Ratsvorsitzenden Bedford-Strohm: »Er muss sich den Vorwurf gefallen lassen, in der Missbrauchsaufarbeitung versagt zu haben.« Der fehlende Aufklärungswille mag dazu geführt haben, dass Kurschus' Mitfavoritin auf den Ratsvorsitz letztlich nur Stellvertreterin wurde. Bischöfin Kirsten Fehrs war Sprecherin des Beauftragtenrates der EKD zum Schutz vor sexualisierter Gewalt, der im Herbst 2018 eingerichtet wurde.
»Desaströs verharmlost«
Trotz redlicher Bemühungen machte sie streckenweise keine gute Figur bei der Aufarbeitung. Schon ihre Vorgängerin im Bischofsamt, Maria Jepsen, war wegen Versäumnissen im Missbrauchsskandal um einen Pfarrer in Ahrensburg zurückgetreten.
Pastor K. hatte in den Siebziger- und Achtzigerjahren mutmaßlich etliche Jugendliche missbraucht, darunter auch seine Stiefsöhne. Fehrs gab eine unabhängige Studie in Auftrag. Der 2014 veröffentlichte Bericht kam zu dem Schluss, dass die Übergriffe in Ahrensburg keine Einzelfälle waren und es weitere Missbrauchstaten im kirchlichen Umfeld gegeben hatte.
Und was tat Fehrs? Sie sagte: »Auch wir sind traumatisiert« – und meinte damit ihre Landeskirche, also die sogenannte Täterorganisation. »Wir sind in Ahrensburg an unsere Grenzen gekommen, und das hat dazu geführt, dass man desaströs verharmlost hat.«
Diese Grenzen wurden in den folgenden Jahren nicht wirklich überwunden. Das Mitleid der Missbrauchsbetroffenen mit der Institution hält sich entsprechend in Grenzen.
Die neue Ratsvorsitzende müsse sich daran messen lassen, wie ernst sie die Aufarbeitung in Zukunft nehme, sagt der Missbrauchsbetroffene Detlev Zander. »Die Glaubwürdigkeit der Kirche steht auf dem Spiel – und damit auch ihre Existenz.«
Wie die katholische Kirche muss die EKD bis 2060 damit rechnen, die Hälfte ihrer Mitglieder zu verlieren – mit schwerwiegenden Folgen. Schon im vergangenen Jahr sanken die Kirchensteuereinnahmen der EKD um 5,4 Prozent auf 5,6 Milliarden Euro. Ein strikter Sparkurs wurde verordnet.
Missbrauchsaufarbeitung soll »Chefinnensache« werden
Die neue EKD-Chefin Kurschus weiß um die Verwerfungen in Sachen Missbrauch und kündigte an, Aufarbeitung und Prävention zur »Chefinnensache« zu machen. Um Vergebung zu bitten, umzukehren und neue Wege einzuschlagen, sei »tiefster Kern unseres christlichen Lebens«.
Man darf gespannt sein, welche konkreten Maßnahmen die EKD in Zukunft ergreifen wird. Auf der Synode wurde beschlossen, das kirchliche Disziplinarrecht zum Vorteil der Missbrauchsbetroffenen zu ändern – wie genau, ist allerdings noch unklar.
Erst im Mai war die Zusammenarbeit mit dem Betroffenenbeirat einseitig von der Kirche auf Eis gelegt worden. Es habe Konflikte gegeben, hieß es. Der Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung, Johannes-Wilhelm Rörig, sprach sich dafür aus, einen unabhängigen Beauftragten als Vermittler einzusetzen.
Noch immer fehlen valide Zahlen zum Umfang der Sexualstraftaten innerhalb der evangelischen Kirche. Erst im Herbst 2023 sollen die Ergebnisse einer Studie des Forschungsverbunds ForuM und des IPP-Instituts in München vorliegen. Die bisher von der EKD erhobenen 942 Missbrauchsfälle hält kaum jemand für eine realistische Zahl. Der Ulmer Psychiater Jörg Fegert kam in einer Hochrechnung auf schätzungsweise 110.000 Betroffene.
Eingelullt mit Betroffenheitslyrik
Neben strukturellen und praktischen Versäumnissen wird auch die Kultur in der evangelischen Kirche kritisiert. Karin Krapp, Betroffene und selbst Pfarrerin, monierte auf der Synode die evangelische »Betroffenheitslyrik«. Es herrsche zudem eine distanzlose »Unternehmenskultur des Angefasstwerdens und Umarmens« in der Kirche, die dringend hinterfragt werden müsse.
Tatsächlich ist Sprache ein riesiges Problem in der EKD. Vor allem bei Vertretern der älteren Generation regieren noch immer ein salbungsvoller Duktus, verquaste Syntax und schwülstige Metaphern. Authentizität und Augenhöhe mit dem Gesprächspartner leiden unter der ornamentalen Rhetorik, die oft mehr versteckt als offenbart. Mitgefühl wirkt dann bisweilen wie eine routinierte eingesetzte Allzweckwaffe.
»Sprache ist Macht«, sagt Zander. Oft habe er beobachtet, wie Missbrauchsbetroffene von Kirchenvertretern verbal umgarnt und eingelullt wurden, um letztlich ohne konkrete Ergebnisse wieder nach Hause zu gehen.
Es wäre also zu wünschen, dass sich der neue Rat an der jungen Präses Heinrich orientiert, die flapsig formulieren kann, aber dabei prägnant bleibt. »Du kennst den Laden der EKD, du weißt, wie der Hase hier läuft«, sagte Heinrich nach der Wahl. Und deutete einen neuen Teamgeist an: »Du wirst vor den Kameras stehen und das Gesicht der evangelischen Kirche sein. Das wird dich fordern, herausfordern, aber du bist nicht allein im Rat. Wir sind ein starkes Team, wir unterstützen dich.«