Obdachlose Familien "Wir möchten eine einfache Wohnung, ein normales Leben"

Sie schlafen in Parks, Abbruchhäusern oder Autos: In Deutschland leben Tausende Familien mit Kindern ohne Wohnung. In Berlin bietet die Unterkunft Nostel Hilfe. Ein Besuch.
Schlafplatz unter einer Brücke (Archivbild)

Schlafplatz unter einer Brücke (Archivbild)

Foto: Getty Images

Ein Hinterhof in Berlin. Hier befindet sich das Nostel, der Begriff setzt sich aus Not und Hostel zusammen: Sechs Wohnungen, deren Adresse geheim bleiben soll, weil die Unterkünfte so begehrt sind, dass Verteilungskämpfe drohen. "Wir bieten eine Notunterbringung für wohnungslose Familien an, die in Deutschland durch alle anderen Hilfsraster fallen", sagt Stoycho Vishev. Er arbeitet in einem Team von drei Kollegen als Sozialarbeiter in dem von der Stadt finanzierten Projekt Nostel des Phinove e.V.

Das Angebot richtet sich insbesondere an Familien aus Osteuropa, die in Berlin schon länger unter akuter Wohnungsnot leiden. Es sind Mütter und Väter mit Kindern, die vor Elend, Armut und Ausgrenzung in ihrer Heimat in anderen Ländern Europas geflohen sind. Familien wie die Ornins, die ihren richtigen Namen nicht in den Medien lesen wollen. Die Geschichte ihrer Wohnungsnot hat nicht erst in Deutschland begonnen.

"Wir kommen aus Bulgarien und mussten dort weg, weil ein Bulldozer unser Haus weggeräumt hat, einfach so zusammengeschoben", erzählt Stefan Ornin. Der 23-Jährige lebt gemeinsam mit seiner Frau Roza, 20, der dreijährigen Tochter, dem acht Monate alten Baby und seinem 17-jährigen Bruder seit einigen Monaten in einer Nostel-Wohnung im Erdgeschoss.

Innenhof der Unterkunft Nostel

Innenhof der Unterkunft Nostel

Foto: SPIEGEL ONLINE

Das Mittagessen ist gerade vorbei, die Familie sitzt noch in der Küche. Stefan Ornin spricht kaum Deutsch. Deshalb übersetzt Vishev, der selbst aus Bulgarien stammt. Er hat diese Geschichten schon oft gehört, wonach bulgarische Behörden armselige Hütten abreißen und die Bewohner ihrem Schicksal überlassen. Oft seien Roma-Familien wie die Ornins betroffen, die in osteuropäischen Ländern als Minderheit häufig unter Diskriminierung zu leiden hätten, sagt der Sozialarbeiter.

Die Ornins kommen aus einer Gegend in der Nähe des Schwarzen Meeres und wohnten dort in einer illegalen Roma-Siedlung, wie sie den Nostel-Betreuern erzählt haben. Die Stadt wollte auf dem Gelände bauen und riss die Siedlung ab. In Bulgarien sei der Zugang zum allgemeinen Wohnungsmarkt für Angehörige der ethnischen Minderheit der Roma faktisch verschlossen, sagt Vishev. "Sie haben oft auch viel schlechtere Chancen auf Bildung und später auch auf dem Arbeitsmarkt kaum eine Möglichkeit, einen guten Job zu bekommen."

Stefan Ornin sagt, er sei nur bis zur vierten Klasse in die Schule gegangen. Danach habe er arbeiten und sich später um seine Familie kümmern müssen. In Bulgarien habe er bei der Müllabfuhr gearbeitet und hundert Euro im Monat verdient. "Das ist fast nichts", sagt der 23-Jährige und blickt zu Boden. Die Familie habe sich kaum die Milch für das Kind leisten können.

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Als das Zuhause vom Bulldozer weggekehrt war, hatten die Ornins ihrer Erzählung zufolge buchstäblich gar nichts mehr. Sie standen auf der Straße und hofften auf ein besseres Leben - woanders. Die Familie sei eher zufällig nach Deutschland gekommen, erzählt Roza. Hier quartierte sich die Familie zunächst in einem abbruchreifen Haus in Berlin ein.

"Der Fußboden hatte große Löcher, deshalb musste man aufpassen, dass man nicht hineintritt und ins Stockwerk darunter fällt", sagt Stefan. Er macht eine wegwerfende Handbewegung: "Mäuse in der Wohnung, Müll im Treppenhaus, katastrophale Zustände, kein Ort für Kinder." Mehrere Monate lebte die Familie dort, bis eine Behörde das Gebäude räumen ließ und es abriegelte.

Danach hörten die Ornins vom Nostel, setzten sich gegen Dutzende andere Bewerber durch - und bekamen das, was für die meisten Menschen normal ist: eine Wohnung. Drei kleine, möblierte Zimmer, Küche, Bad. Mit fließend Wasser, Heizung und Herd. "Wir müssen einigen Bewohnern erst zeigen, wie sie damit umgehen, weil sie all das nicht kennen", sagt Anna Hanf, die das Nostel-Projekt leitet. "Einige machen die Herdplatten an, um die Wohnung warm zu bekommen - aus Unwissenheit."

Bei den Ornins dagegen läuft die Heizung, ebenso wie die Waschmaschine. Alles ist picobello sauber und aufgeräumt. Das Baby schläft, die Dreijährige sitzt bei Stefan auf dem Schoß, futtert Chips und spielt mit dem Handy. Das Kind hustet ziemlich, hat fiebrige Augen und soll gleich zum Arzt. Für die Ornins ist der Gang in die Praxis nicht selbstverständlich. Erst seit sie im Nostel leben, haben sie eine Krankenversicherung.

"Das ist eine moderne Form der Sklaverei"

"Wir erleben oft, dass die Kinder hier erst einmal krank werden, weil der Stress von ihnen abfällt", sagt Hanf. Die Familien haben in den Wohnungen oft nach Jahren das erste Mal die Möglichkeit, normalen Alltag zu leben - und ihr Leben mit Hilfe der Betreuer zu sortieren. "Clearing", heißt das im Fachjargon. "Wir melden die größeren Kinder in der Schule an, viele sehen das erste Mal einen Klassenraum von innen. Die Kleineren sollen wenn irgend möglich in die Kita", sagt Hanf.

Für mindestens ein Elternteil versuchen die Betreuer einen sozialversicherungspflichtigen Job zu organisieren. Die Mitwirkung der Familien und ihre Bereitschaft, legal in Deutschland Fuß zu fassen, sei Grundvoraussetzung für eine erfolgreiche Arbeit in dem Projekt, heißt es von den Betreuern. Viele Bewerber hätten beim Einzug schon einen Job, bis dato aber keine Meldeadresse gehabt und auch deshalb oft schwarz gearbeitet. Sei die Nostel-Adresse da, melde der Arbeitgeber den Job eher offiziell an.

So war es auch bei Stefan Ornin, der im Straßenbau Steine schleppt. "Harte Arbeit", sagt der 23-Jährige. Es ist ein Teilzeitjob im Niedriglohnsektor, aber reguläre Arbeit. Damit hat die Familie die Aussicht, zusätzlich Hilfe vom Staat zu bekommen.

Bei anderen Familien sei es schwieriger, sagt Hanf. Dann nämlich, wenn die Menschen bisher in "dubiosen, kriminellen Strukturen" von Geschäftemachern über Schwarzarbeit und Lohndumping massiv ausgebeutet wurden. Die Nostel-Betreuer hören immer wieder, dass Menschen in ihrer Heimat von Geschäftemachern nach Deutschland gelockt werden, mit dem Versprechen, ihnen Arbeit und Wohnung zu besorgen.

Hier angekommen, kommt die massive Enttäuschung: Die Menschen müssten eine "überteuerte Matratze in überfüllten Zimmern mieten", oft in sogenannten "Problem-Immobilien", und etwa auf Baustellen, in Putzkolonnen oder in der Gastronomie zu Dumpingpreisen schuften, sagt Phinove-Geschäftsführerin Karmen Vesligaj. Ohne Krankenversicherung, Urlaubsansprüche, sonstige Rechte. "Das ist eine moderne Form der Sklaverei in einer Art Parallelwelt."

Die Menschen hätten am Ende des Monats kaum noch Geld übrig, weil sie fast alles an ihren Vermieter abgeben müssten, der gleichzeitig ihr Arbeitgeber sei, sagt die Juristin. "Diese Menschen sind völlig abhängig und hilflos, wenn der Chef ihnen zum Beispiel den Lohn nicht zahlt, oder wenn er sie rauswirft und plötzlich Arbeit und Unterkunft weg sind. Sie kennen ihre Rechte nicht, und wenn doch, wissen sie oft nicht, wie sie die durchsetzen können." Das sei auch im Umgang mit deutschen Behörden so.

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Wegen der Freizügigkeit in der Europäischen Union dürfen Familien wie die Ornins in Deutschland leben und arbeiten - haben aber anders als Bundesbürger nur unter bestimmten Bedingungen Anspruch auf staatliche Unterstützung und damit etwa auf Unterbringung in einer Sozialwohnung. Wer beispielsweise jahrelang in Schwarzarbeit ausgebeutet wurde oder vergeblich Arbeit gesucht hat und in Deutschland gestrandet ist, kann kaum auf Hilfe hoffen, weil er nichts ins deutsche Sozialsystem eingezahlt hat.

"Wir haben offene Grenzen und freuen uns, wenn aus Polen, Rumänien oder Bulgarien ausgebildete Ärzte, Ingenieure oder Altenpfleger kommen. Aber arme Menschen ohne Ausbildung wollen wir hier letztlich nicht haben. Das ist Rosinenpickerei, das finde ich menschlich schäbig", sagt Vesligaj.

Eine Rückkehr in die Heimat sei für meisten Familien keine Option. Dort lebten sie oft in noch größerer Armut, als wenn sie in Berlin ihr Geld etwa mit Flaschensammeln verdienten.

Die Nostel-Bewohner sollen nur einige Monate in der Einrichtung bleiben und dann, wenn sie ihr Leben geordnet und eine Wohnung gefunden haben, Platz für andere machen. Aber genau da liegt das Problem. "Bezahlbarer Wohnraum ist in Berlin extrem knapp", sagt Vishev. "Familien aus Rumänien oder Bulgarien haben so gut wie keine Chance - auch weil es viele Vorurteile gibt."

Familie Ornin hat die Suche noch nicht aufgegeben. "Wir möchten eine einfache Wohnung, ein normales Leben", sagt Stefan. Sein Wunsch: Deutsch und einen guten Beruf zu lernen. Aber das ist ein Luxus, den er sich nicht leisten kann. "Einer muss arbeiten. Für mich ist es schon zu spät", sagt der 23-Jährige. "Aber für die Kinder hoffe ich."

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