Polarisierung der Gesellschaft Neue Länder, alte Wut

Demonstration von Bergleuten im Oktober 1993 in Potsdam
Foto: Seeliger/ imago imagesRutscht Deutschland nach rechts? Spaltet sich die Gesellschaft in verfeindete Lager, wachsen die Unterschiede zwischen Ost und West? Die "Thesen zum Riss" gehen diesen Fragen nach - sie sind überarbeitete Auszüge aus dem Buch "Die Reise zum Riss", das den gesellschaftlichen Wandel anhand von Reportagen aus allen Ecken der Republik diskutiert.
Es gilt unter manchen Experten als verpönt, gesellschaftliche Prozesse zu verschiedenen Zeiten direkt miteinander zu vergleichen. Weil die Zusammenhänge der Welt komplex sind, weil es trotz aller Parallelen immer auch Unterschiede gibt, weil Geschichte sich nicht wiederholt.
Stimmt. Aber manchmal reimt sie sich.
Einen Reim auf unsere Gegenwart kann sich zum Beispiel machen, wer ein gutes Vierteljahrhundert in der Zeit zurückgeht. Auch damals, in den frühen Neunzigerjahren, zog sich über viele Monate eine zum Teil polemisch geführte Debatte über "Asylmissbrauch". Auch damals einigte sich ein Bündnis aus Union und SPD im "Asylkompromiss" auf Maßnahmen für eine Minimierung des Zuzugs von Migranten - ähnlich wie kürzlich im sogenannten Migrationspaket.
Und auch damals gelangen rechten Parteien überraschende Wahlerfolge: So erhielten die Republikaner 1992 bei der Landtagswahl in Baden-Württemberg fast elf Prozent der Stimmen, in Schleswig-Holstein entfielen 6,3 Prozent auf die DVU, die bereits im Jahr zuvor bei der Bürgerschaftswahl in Bremen auf mehr als sechs Prozent der Stimmen gekommen war.
Man kann aus dieser Zeit sicherlich einiges lernen, der Vergleich zwischen den Jahren nach dem Mauerfall und den Jahren nach 2015 stößt allerdings auch an Grenzen: Es gab damals keine besonders einflussreichen Populisten, die mit Halb- und Unwahrheiten nachhaltig den Diskurs vergifteten. Zudem gelang es den tonangebenden Rechtsparteien nicht, dauerhaft in Parlamenten vertreten zu sein oder gar in den Bundestag einzuziehen. Vor allem aber entwickelten sich Gehässigkeit und Misstrauen gegenüber Politikern, Wissenschaftlern, Journalisten oder Religionsvertretern nicht zu gesellschaftlichen Leitmotiven.
Der Ostdeutsche als ewiges Opfer?
Trotzdem deutet vieles darauf hin, dass die aktuelle Polarisierung einen Ursprung in den Kinderjahren der wiedervereinigten Republik hat, vor allem im Ostdeutschland der frühen Neunzigerjahre.
"Blühende Landschaften" und einen "Aufbau Ost" hatte die Bundesregierung den Bürgern der neuen Länder versprochen, doch die Wirklichkeit fiel in den Augen vieler Menschen anders aus: Die Treuhandanstalt legte etliche Betriebe still, Arbeitsplätze fielen massenhaft weg und Hunderttausende zogen in den Westen, während rechtsradikale Akteure zwischen Görlitz und Wismar schlagkräftige Neonazistrukturen aufbauten.
Diese Erfahrung eines wirtschaftlichen und sozialen Niedergangs legitimiert selbstverständlich keine rassistische Gewalt oder rechtsextreme Aufmärsche. Es wäre auch falsch, eine spezifisch ostdeutsche Opferrolle mit solchen Argumenten zu zementieren statt auf die Gestaltungsmöglichkeiten in einer freiheitlichen Demokratie hinzuweisen. Das nämlich ist das Narrativ von Populisten: der Ostdeutsche als ewiges Opfer - erst des SED-Regimes, dann der westdeutschen Eliten und Konzerne, schließlich der "Lügenpresse" und der "Islamisierung".
Es wäre ohnehin gefährlich, sich bei der Analyse der Gegenwart ausschließlich auf einen vermeintlich homogenen "Osten" zu fokussieren, schließlich gab und gibt es Wahlerfolge rechter Parteien sowie rassistische Übergriffe auch zwischen Nord- und Bodensee.
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27.02.2021 06.12 Uhr
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Verstehen kann die ostdeutsche Wut der Gegenwart aber eben auch nur, wer berücksichtigt, dass Millionen DDR-Bürger in einem Unrechts- und Obrigkeitsstaat sozialisiert wurden - und sich nach 1990 in einem Labor neoliberalen Gesellschaftsumbaus wiederfanden. Millionen Bürger, denen eine enorme Anpassungsleistung ebenso abverlangt wie eine gewaltige Geringschätzung entgegengebracht wurde. Viele dieser Menschen haben auch drei Jahrzehnte später nicht das Gefühl, gleichwertig zu sein.
Dafür gibt es durchaus Gründe: In den neuen Bundesländern sind das Lohnniveau und das Pro-Kopf-Vermögen auch heute noch niedriger, während die Arbeitslosenquote höher ist als im Westen. Hinzu kommt: Politik, Justiz und Wirtschaft werden in einem absurden Ausmaß von Menschen geprägt, die in der alten Bundesrepublik aufwuchsen. So gibt es laut einer Auswertung des "Redaktionsnetzwerks Deutschland" von Anfang 2019 kein einziges Oberlandes-, Finanz-, Landesarbeits-, Oberverwaltungs- oder Landessozialgericht im Osten, dessen Präsidentin oder Präsident aus Ostdeutschland stammt.
Ist die Wut vieler Ostdeutscher, die sich in Pegida-Kundgebungen und AfD-Wahlerfolgen manifestiert hat, eine Langzeitfolge dieser Ungleichheiten, dieser Gleichzeitigkeit von Auf- und Abbruch? Davon geht augenscheinlich Angela Merkel aus, die selbst in der Uckermark aufwuchs. "Ich finde es nicht so verwunderlich, dass es in Ostdeutschland Frustrationen gibt", sagte die Bundeskanzlerin im Januar 2019 in einem Interview mit der "Zeit". Sie jedenfalls tue sich schwer mit der Aussage, das Land sei so gespalten wie nie zuvor: "Das Land war vielleicht nie so versöhnt, wie man dachte."
Das klingt nach einer erstaunlichen Gelassenheit - die vielen Deutschen allerdings abhandengekommen ist. Dafür gibt es freilich etliche Gründe, die nicht nur zwischen Ostsee und Erzgebirge zu suchen sind. Ein zentrales Problem ist, und zwar bundesweit: Gelassenheit kann sich nur leisten, wer über Gewissheit verfügt. Und Gewissheiten sind im 21. Jahrhundert zur Mangelware geworden, jedenfalls die besonders lang gehegten.
Das "Ende der Geschichte" fiel aus
Im Kalten Krieg gehörte zu diesen Gewissheiten vor allem ein Freund-Feind-Schema, das den Deutschen die ideologische Orientierung ungemein erleichterte: im Osten der Sozialismus und die Planwirtschaft, im Westen das Christentum und der Kapitalismus.
Von dieser Ordnung ist wenig übriggeblieben. Das "Ende der Geschichte" jedenfalls, das der Politologe Francis Fukuyama nach dem Ende des Kalten Krieges vorschnell ausgerufen hatte, blieb aus: Die Weltgemeinschaft wandelte sich nicht zu einem liberal-demokratischen Paradies.
Stattdessen gibt es heute ein Überangebot widerstreitender politischer und religiöser Überzeugungen, von denen viele über das Internet Verbreitung finden - weltweit, sekundenschnell, ungefiltert. In diesem Wirrwarr erscheinen einfache Antworten, die ein Zurück in den Kosmos scheinbarer Übersichtlichkeit vorgaukeln, als attraktive Alternativen: Populismus und Nationalismus als Weltbildvereinfacher, hochdosiert.
Dieser Drogencocktail erzielt eine so beachtliche Wirkung, weil er auf einen äußerst sensiblen Rezeptor des menschlichen Wesens abzielt: die Identität. Freiheit, Wohlstand und selbst Würde kann jede und jeder Deutsche verlieren; aber eines ist selbst in der fundamentalsten Krise gewiss: das Deutschsein.
Wir oder die? Es geht um so viel mehr
Wenn nun Politiker beteuern, sich nur für Einheimische einzusetzen, dann klingt das für viele Deutsche entsprechend verlockend - zumal dieses Versprechen komplexe Fragen rund um Verteilungsgerechtigkeit, Ausbeutung und Globalisierung auf eine schlichte Formel reduziert: wir statt die.
Die Formel wirkt, und zwar weltweit: ob in Brasilien, Italien, den USA oder Polen - Rechtspopulisten (und solche, für die dieser Begriff schon beschönigend ist) gewinnen allenthalben an Einfluss, was zumindest belegt, dass sich die Antworten auf den bundesrepublikanischen Rechtsruck keineswegs nur in Ostdeutschland finden lassen. Es gibt ein grundsätzliches Problem: eines, das vermutlich viel mit ökonomischen Krisen im Kapitalismus und den gebrochenen Versprechungen von Politikern und Wirtschaftsexperten zu tun hat.
Aus der damit zusammenhängenden Polarisierung folgt nicht, dass die Gesellschaft sich einfach in Linke und Rechte, Hetzer und Prediger, Gute und Böse einteilen ließe. Wie unübersichtlich die Gemengelage geworden ist, zeigt sich etwa anhand von Kundgebungen vor Flüchtlingsheimen wie 2015 in Freital oder 2018 in Erfurt bei der Grundsteinlegung für eine Moschee. Organisiert werden solche Demonstrationen oft von extrem rechten Akteuren, auf die Straße gehen dann aber auch viele Menschen aus dem bürgerlich-konservativen Lager, "besorgte Bürger" eben. So gelingt es radikalen Strippenziehern, die Trennlinie zwischen rechtskonservativen Einstellungen und extremistischen Ideen weiter zu verwischen.
Das mag etwa in Thüringen und Sachsen auch deshalb so gut funktionieren, weil in den Wendejahren große Teile der früheren DDR-Gesellschaft zwei prägende Erfahrungen machten. Vor dem Mauerfall überwanden die Menschen ein repressives System mit unnachgiebigem Einsatz. Nach dem Mauerfall sahen sie, dass sich mit Protest und Gewalt noch immer etwas erreichen lässt: Im "Asylkompromiss" von 1993 entsprach die Politik dem Wunsch nach einer restriktiven Begrenzung von Zuwanderung - nachdem es immer wieder zu Übergriffen auf Zuwanderer gekommen war.

Rassismus auch im Westen: Tatort am Tag nach dem Brandanschlag von Solingen, Mai 1993
Foto: ROLAND WEIHRAUCH/ APÄhnlich verlief es in den Jahren nach 2015: Den Anfeindungen, Gewalttaten und Demonstrationen gegen Migranten folgten recht bald politische Maßnahmen, um den Zuzug weiterer Migranten zu reduzieren - die Bundesregierung schränkte etwa den sogenannten Familiennachzug für subsidiär Geschützte ein und legte eine Obergrenze von 220.000 neuen Asylsuchenden pro Jahr fest.
Es ist naheliegend, daraus einen gefährlichen Schluss zu ziehen: Wenn der Protest nur heftig genug ausfällt, knickt der Staat schon irgendwann ein - ganz unabhängig davon, ob die öffentliche Empörung berechtigt ist, eine tatsächliche Mehrheitsmeinung repräsentiert oder überhaupt Ausdruck eines Problems ist, das so gewaltig ist wie die Reaktion darauf.
Dieser Logik zufolge treibt der Staat womöglich selbst jene Polarisierung voran, die längst ein alarmierendes Ausmaß erreicht hat: Es gibt einen Riss, breit und tief, der sich quer durch die Gesellschaft zieht. Vor allem in der Debatte über Migration, Asyl und Integration haben sich zwei große Lager herausgebildet, die sich unversöhnlich gegenüber zu stehen scheinen - obwohl jedes dieser Lager in sich äußerst heterogen ist. Auf der einen Seite die konservativen Zweifler und Kritiker bis weit ins politisch rechte Spektrum, auf der anderen Seite das liberale Bürgertum und eine linke Klientel.
Diese Kluft zwischen beiden Gruppen ist keineswegs willkürlich entstanden. Hätte es nicht vorher schon brüchige Stellen und kleine Risse gegeben, andere Konfliktthemen also, wäre dieser Graben angesichts der Asylkrise wohl kaum auf derart bedrohliche Ausmaße angewachsen.
Migration war der Auslöser der gesellschaftlichen Spaltung, nicht aber ihre Ursache.
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