
Johannes Paul II.: Ein Land entfernt sich von seinem Idol
Johannes Paul II. Polens National-Heiliger
Joanna Wrona aus Katowice war in der 28. Woche, als die Ärzte ihr jede Hoffnung nahmen. Das kleine Mädchen in ihrem Bauch habe keine Nieren, einen schweren Herzfehler und müsse sterben. In ihrer Verzweiflung drückte sie sich eine postkartengroße Zeichnung Johannes Paul II. auf den Unterleib und betete.
Wenig später riet die Klinik zum Not-Kaiserschnitt. 860 Gramm wog Gloria Maria bei ihrer Geburt, die Mediziner hatten sie aufgegeben. Doch dann geschah das Unglaubliche: Das Kind erholte sich, wurde kräftiger. Gloria Maria ist heute neun Jahre alt und ein ganz normales Mädchen.
Ihre Rettung ist eines jener Wunder, die dem polnischen Papst gutgeschrieben werden und Grund sind für seine Heiligsprechung am 27. April, dem Sonntag der Barmherzigkeit. Die Kirchen werden voll sein, das Geschäft mit Devotionalien aller Art und Preisklassen boomt. Die päpstliche Münzerei in Tschenstochau hat eine rund vier Kilo schwere silberne Gedenkmünze prägen lassen.
In religiöser Verzückung für den ersten Polen auf dem Stuhle Petri werden seine Anhänger Kerzen vor den zigtausend päpstlichen Statuen des Landes entzünden. Karol Wojtyla ist in weißem Ornat sogar in der Größe eines Gartenzwerges zu haben.
Der "Sohn polnischer Erde" als Stellvertreter Christi auf Erden
Als am 16. Oktober 1978 ein bis dahin relativ unbekannter polnischer Kardinal in der Sixtinischen Kapelle zum Papst Johannes Paul II. gekürt wurde, lag sein Heimatland im kalten Schatten der Sowjetunion: vom Weltkrieg noch traumatisiert, unfrei, wirtschaftlich rückständig und verarmt. Werftarbeiter in Danzig und Stettin und die Kumpel in Schlesien rebellierten zusammen mit Intellektuellen aus Warschau und Krakau gegen die Herrschaft der Kommunisten.
Ihr Aufstand erhielt neue Energie, als der Papst schon 1979 sein Heimatland besuchte. Zehn von 40 Millionen säumten die Straßen um einen Blick auf Jan Pawel II., wie sie ihn nannten, zu werfen und sein "Fürchtet euch nicht" zu hören. Der "Sohn polnischer Erde" als Stellvertreter Christi auf Erden wertete die ganze Nation auf. Plötzlich wusste die ganze Welt, wo Polen lag, nahm die Opposition zur Kenntnis, ihre Streiks und Demonstrationen.
Dass der Papst 1981 nur knapp einem möglicherweise von kommunistischen Geheimdiensten konzertierten Attentat entging, machte ihn zum Märtyrer. Dieser Nimbus färbte auf die ganze Nation ab, die so oft in der Geschichte vor dem Abgrund gestanden hatte.
Aus dem Agrarland Polen ist ein europäischer Player geworden
Sein Leiden und die Genesung ihres Pontifex gab Tausenden Dissidenten Kraft und Mut, die nach der Niederschlagung der freien Gewerkschaft Solidarnosc in den Untergrund gehen mussten oder interniert waren. Auf "mindestens 50 Prozent" schätzte einst Lech Walesa den Anteil des polnischen Papstes am Zusammenbruch des Ostblocks.
Kaum ein Land profitierte so vom Fall der Mauer und der Bindung an den Westen wie Polen. Nur die Kirche scheint nicht Schritt zu halten mit der neuen Zeit.
Die Polen sind trotz Papstkult immer weniger bereit, sich kirchlichen Lehren unterzuordnen. Höchstens ein Fünftel seien heute noch wirklich praktizierende Gläubige, fürchtet selbst der konservativ-katholische Publizist Tomasz Terlikowski. Junge Leute in Warschau oder Posen gehen auch vor der Ehe miteinander ins Bett. Sie verstehen kaum, warum künstliche Befruchtung verboten oder Homosexualität stigmatisiert sein soll. Und immer weniger Menschen - das zeigen Umfragen - glauben, dass die Kirche passende Lösungen hat für die Probleme der Gegenwart: Migration, Karrieredruck, Angst um den Arbeitsplatz.
Der bekannte Publizist Rafal Kalukin notierte in "Newsweek Polska" bestürzt: "Als Erzieher der Polen hat Johannes Paul II. verloren."
Umfrage erreichte die Gläubigen nicht
Die Gläubigen wenden sich von der katholischen Lehre ab - und die polnische Kirche schaut weg. Man will die Lebenswelt der Katholiken lieber gar nicht so genau kennenlernen.
Als unlängst Papst Franziskus eine weltweite Umfrage unter den Katholiken darüber anregte, was heute Glaube bedeute, welche Grundsätze sich möglicherweise gar überlebt hätten, mauerte das polnische Episkopat. Die meisten Kleriker beantworteten die vom Vatikan vorgeschlagenen Fragen zu Homosexualität, Scheidung oder künstlicher Befruchtung selbst, oder ließen Getreue ihre Meinung äußern. Vielerorts erfuhren die normalen Kirchgänger gar nicht erst von der päpstlichen Umfrage. Noch gibt es keine Laienbewegung wie "Wir sind Kirche", die den Bischöfen die Meinung sagen könnte.
Das polnische Episkopat, durchaus zerstritten in einen eher Reformen zuneigenden und einen konservativen Flügel, will Geschlossenheit demonstrieren. Lässt sich ein Konflikt einmal nicht totschweigen, fällt die Entscheidung meist konservativ aus. Beispiel Wojciech Lemanski: Der Pastor hatte angeregt, das strikte Verbot der künstlichen Befruchtung zu überdenken. Ihm wurde daraufhin untersagt, weiter in Jasienica bei Warschau die Messe zu lesen. Als er sich widersetzte - er wusste dabei seine Gemeinde hinter sich -, wurde ihm ausgerechnet kurz vor Ostern die Kirche dichtgemacht.
Mehr als 90 Prozent der Polen bezeichnen sich noch immer als "gläubige Katholiken". Am Sonntag werden sie zu Zehntausenden nach Rom ziehen, zur Heiligsprechung von Johannes Paul II. Und für einen Moment wird die nationale Begeisterung vergessen lassen, dass die Kirche in einer Krise steckt.