Passionsspiele in Unterfranken Ich bin euer Jesus

Alle fünf Jahre verwandelt sich das kleine Sömmersdorf in ein großes Theater. Die Fränkischen Passionsspiele sind hier Tradition - und Familiensache. Jetzt geht es wieder los.
Tobias Selzam

Tobias Selzam

Foto: Andreas Thamm

Etwas mehr als 700 Menschen leben in Sömmersdorf, einem kleinen Ortsteil von Euerbach in Unterfranken. Ein heimeliges Plätzchen in der Nähe von Schweinfurt. Doch alle fünf Jahre, wenn die Passionsspiele stattfinden, ist es hier mit der Ruhe vorbei: 30.000 Besucher werden in diesem Jahr ab dem 24. Juni erwartet.

In Sömmersdorf kennt jeder jeden, viele Familien sind hier seit Generationen heimisch - und viele sind über die Jahre eng mit den Passionsspielen verbunden. Das gehöre halt dazu, das sei Tradition, sagt ein junger Mann mit dunkler, halblanger Wuschelfrisur und Vollbart. "Für Außenstehende ist es bestimmt schwer zu verstehen, warum man das macht."

So spricht Gottes Sohn - oder genauer: Tobias Selzam, der in diesem Jahr zum zweiten Mal in Sömmersdorf den Jesus spielt. Er ist einer von zwei Jesus-Darstellern, denn alle großen Sprechrollen sind doppelt besetzt. Wenn Selzam nicht Jesus spielt, gibt er den Matthäus - und Jesus-Souffleur.

Bei Selzams zu Hause sieht es nicht so aus, als würde hier einer leben, der sich auf der Bühne ans Kreuz nageln lässt. Kein Kruzifix an der Wand, keine Bibel auf dem Tisch, keine Osterdekoration. Grau und minimalistisch schick ist der Anbau an das Elternhaus, den Tobias Selzam und seine Frau in den vergangenen Jahren errichtet haben, schwarze Untersetzer aus Schiefer liegen unter den Kaffeetassen.

"Beim ersten Mal fragt dich keiner"

Wer wie Selzam in Sömmersdorf aufgewachsen ist, kann den Passionsspielen kaum entkommen. Im Alter von vier Jahren stand er erstmals auf der Freilichtbühne, als Toga tragender Teil des Volkes. "Beim ersten Mal fragt dich keiner", sagt er. Vor 2000 Menschen Theater zu spielen, ob nun mit oder ohne Text, das gehört zur normalen Erfahrung eines Heranwachsenden in Sömmersdorf. "Es machen alle mit", so Selzam. "Was will man auch sonst machen in der Zeit?"

Man irrt, wenn man glaubt, ein Jesus-Darsteller im Jahr 2018 müsste ein glühender Eiferer sei. Tobias Selzam, 33 Jahre alt, im richtigen Leben Berufsschullehrer in Schweinfurt, wirkt auf seine achselzuckend-lässige Art, als wäre er in die Rolle nur so hineingerutscht. Tatsächlich zeigt die Geschichte seiner Familie, wie die Tradition hier die Dinge am Laufen hält.

Tobias Selzam bei einer Probe

Tobias Selzam bei einer Probe

Foto: Andreas Thamm

1933, als die Passionsspiele in Sömmersdorf das erste Mal aufgeführt wurden, gab Tobias Selzams Urgroßvater Josef Nuss den Jesus. Später verboten die Nazis die Spiele, doch nach dem Krieg fand sich schnell wieder ein Theatergrüppchen. Dazu gehörte der Sohn, Rudolf Nuss, der die Jesus-Rolle von seinem Vater erbte. Tobias Selzams Großmutter stand als Maria auf der Bühne. Schade, sagt Selzam, dass sie nicht mehr erlebt habe, wie er den Jesus spielt. Da wäre sie schon stolz gewesen.

Die Saga ließe sich endlos weiter ausführen, von Großonkeln und Großtanten, bis hin zu den Eltern, den Nichten, Neffen und Geschwistern von Tobias Selzam. "In den Folgegenerationen von Josef Nuss", sagt Norbert Mergenthal, Dritter Vorsitzender des verantwortlichen Vereins, "sind 2018 tatsächlich 28 Menschen bei den Passionsspielen aktive Mitwirkende". Mergenthal muss es wissen, er ist nicht nur der Nachbar, sondern auch Selzams Cousin zweiten Grades und spielt den Hohepriester Kajaphas. So ist das in Sömmersdorf.

Die Tochter spielt im Volk mit

Früher durften nur eingefleischte Sömmersdorfer mitspielen. Heute ist man da nicht mehr so streng. Tobias Selzams Frau, Stefanie Liebold, ist zugezogen, eine Schweinfurterin. "Wir haben uns kennengelernt, da habe ich gerade die Mitteilung bekommen, dass ich der Jesus werde", sagt Selzam. Damals sei es ihr nicht leichtgefallen, sich an diesen Zirkus zu gewöhnen. Doch in diesem Jahr, so schnell geht das, tritt sie als Maria Magdalena auf. Und Tobias Selzams Tochter Emma, zehn Jahre alt, spielt im Volk mit.

Die Erinnerung an die eigene Kindheit ist bei Tobias Selzam wahrscheinlich noch stärker als der Stolz, Jesus sein zu dürfen. Als kleiner Junge zählte er die Busse, die um die Spielstätte parkten. Er war immer dabei, mal als Wächter, mal hinter den Kulissen, in der Technik. Vor und nach den Aufführungen regelte er als Mitglied der Freiwilligen Feuerwehr noch den Verkehr.

Es gibt Menschen im Dorf, die ihr Leben lang alle fünf Jahre bei den Passionsspielen mitmachen: Selzams Mutter gehört dazu und auch Norbert Mergenthal. Tobias Selzam pausierte, als er zum Studium nach Freising zog. Jedes Wochenende zum Proben heimfahren - das war ihm dann doch zu viel.

"Für mich war klar, dass ich wieder heimkomme", sagt Selzam. "Dass es wieder Sömmersdorf wird, hätte ich mir auch nie träumen lassen." Er blickt aus dem großen Panoramafenster im Wohnzimmer. Von hier aus kann man die alte Schule sehen, wo damals ein Lehrer auf die Idee kam, seine Schüler die Passion Jesu nachspielen zu lassen. Und links davon, das gelbe Haus, das ist das Wirtshaus, wo die ersten Aufführungen stattfanden.

Selzam kehrte 2012 zurück, als gerade ein neues Regieteam übernommen hatte. Alles wurde neu aufgestellt: Rollen, die sich für die Schauspieler und Schauspielerinnen anfühlten wie eine zweite Haut, wurden neu vergeben. Man kann sich den kleinen Aufschrei vorstellen, der durch das Dorf gegangen sein muss - auch wenn heute, im Nachhinein, natürlich alles nicht so schlimm war.

"Man hat einen Zettel bekommen, auf dem man ankreuzen konnte, Sprechrolle Ja oder Nein", erinnert sich Selzam. "Ich hab gedacht, na ja, drei Sätze bringst du grad noch raus." Auf einmal habe er sich dann im End-Casting um die Jesus-Rolle wiedergefunden. Zusammen mit drei Freunden, von denen zwei schon einmal Jesus gespielt hatten und diese Rolle natürlich gern behalten hätten. "Wir waren uns einig: Wir kacken uns nicht an. Wir gönnen es dem anderen."

"Nie gedacht, dass ich der Jesus werde!"

Selzam ruft, als gäbe es heute noch so etwas wie einen Rechtfertigungsdruck: "Ich hätte nie gedacht, dass ich der Jesus werde! Wirklich nicht!"

Ob er in fünf Jahren wieder auf der Bühne stehen wird? Auf jeden Fall. Aber vielleicht nicht unbedingt als Jesus. Selzam schaut auf die Uhr, er muss zurück in die Halle. Zehn Stunden Probe an einem Samstag sind normal. Eigentlich müsste er jetzt für die Berufsschule Goldschmied-Prüfungen vorbereiten.

"Wenn du öfter hier wärst", sagt Selzam, "würdest du merken, dass das Gejammere manchmal schon groß ist. Ich jammere auch. Ein Außenstehender würde sich denken, wenn sich jeder hier aufregt, warum macht ihr es dann? Aber am Schluss ist es doch so: Eigentlich war es cool, zwar total anstrengend, aber es hat sich wieder gelohnt."

Selzam freut sich auf die erste Aufführung in diesem Jahr, nur nicht auf die Kreuzigungsszene. Er wird Manschetten an den Armen tragen, die mit Ringen versehen sind, die dann am Kreuz eingehakt werden. "Und dann steht man da auf einem Bein auf so einem kleinen Tritt am Kreuz und es ist heiß und die Kreuzigungsszene dauert schon eine Viertelstunde."

Vier Stunden dauert eine Aufführung insgesamt. Trainiert er dafür gezielt seine Fitness? "Nö", sagt Tobias Selzam trocken. Den Jesus könne jeder Normalsterbliche spielen.

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