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Kids on Tour: Pendeln zwischen Papa und Mama

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Pendelnde Scheidungskinder Im Zug der Familien-Nomaden

150.000 Kinder in Deutschland erleben jedes Jahr die Scheidung ihrer Eltern. Wenn Vater und Mutter nach der Trennung in verschiedenen Orten leben, müssen die Kleinen pendeln und von einer Familie zur anderen umschalten. Eine Herausforderung, die sie verändert - und vielen sogar gefällt.
Von Simone Utler

Hamburg - Sonntag, 12.33 Uhr, Hamburger Hauptbahnhof, Gleis 13. Träge rollt der IC heran, die Bremsen quietschen. "Auf die Minute pünktlich - das ist selten", sagt Leandro M. Mit der Leichtigkeit eines geübten Reisenden zieht er seinen blauen Trolley durch die Beine der Wartenden. Souverän, ruhig, wie all die anderen Wochenendpendler. Er will möglichst dicht vor der Tür stehen, wenn der Zug hält. Leandro ist zwölf.

Alle vier bis sechs Wochen fährt der Junge mit dem Zug von Dortmund nach Hamburg und zurück: Er pendelt zwischen seinen Eltern hin und her. Leandro ist ein Scheidungskind. Das Wochenende hat er bei seinem Vater verbracht, nun ist er auf dem Weg nach Hause, zu seiner Mutter.

Leandro ist nicht allein unterwegs. Mit ihm reisen Sarah, 11, deren Eltern getrennt leben, Lukas, 9, auf dem Weg von seiner Patentante nach Hause, und Begleiterin Brigitte Gillmeister, ehrenamtliche Mitarbeiterin der Bahnhofsmission. Später steigt noch Pheline, 8, in den Zug - auch sie ist auf dem Weg von Papa zu Mama.

Die Bahn hat pendelnde Kinder als wachsende Kundengruppe erkannt und bietet seit Juni 2003 das Programm "Kids on Tour" an. Der Service, den es freitags und sonntags auf sieben Routen gibt, wird überwiegend von Kindern zwischen sechs und zehn Jahren genutzt, durchschnittlich alle zwei Wochen. Insgesamt waren seit 2003 mehr als 22.300 Jungen und Mädchen mit "Kids on Tour"  unterwegs, allein 2009 waren es 6229 - Tendenz steigend.

Auch die Fluggesellschaften erkennen den Trend zum alleinreisenden Kind. Germanwings zum Beispiel hat im vergangenen Jahr 5400 unbegleitete Minderjährige als Passagiere registriert, jedoch nicht erhoben, wie viele von ihnen zwischen ihren Eltern hin- und herflogen.

Zahlen über pendelnde Kinder gibt es nicht. Von 1990 bis 2008 erlebten insgesamt rund 2,8 Millionen Minderjährige in Deutschland die Scheidung ihrer Eltern, für 2008 meldete das Statistische Bundesamt rund 150.000 betroffene Kinder.

Kinder werden Familien-Nomaden

Seit der Änderung des Kindschaftsrechts 1998 ist das gemeinsame Sorgerecht erwünscht und die Regel. Es herrscht Konsens, dass ein Kind beide Eltern braucht. Wie Familien dies umsetzen, variiert: Das "Nestmodell" geht von drei Haushalten aus - dem der Mutter, dem des Vaters und dem Zuhause, in dem das Kind dauerhaft lebt und abwechselnd von jeweils einem Elternteil betreut wird. Dieses Modell wird jedoch relativ selten genutzt. Wesentlich häufiger ist die Pendelsituation, bei dem das Kind bei einem Elternteil seinen hauptsächlichen Aufenthaltsort hat und den anderen regelmäßig besucht.

Leandro pendelt seit August 2008. Damals zog seine Mutter von Hamburg nach Recklinghausen, zu ihrem neuen Lebenspartner, und Leandro zog mit. Die Ehe der Eltern war schon länger zerrüttet. Leandro war sechs, als sein Vater auszog, acht, als sich die Eltern scheiden ließen, zehn, als die Mutter ihren neuen Partner kennenlernte.

Früher hieß Familie: zusammen leben. Heute teilt sich das Familienleben zunehmend auf verschiedene Orte auf. Sozialwissenschaftler sprechen vom Phänomen der "Multilokalität". Erwachsene werden Job-Nomaden, Kinder werden Familien-Nomaden.

Jungen und Mädchen, deren Eltern getrennt leben, befinden sich ohnehin oft in einer emotionalen Zwickmühle. Sie sind hin- und hergerissen zwischen Mama und Papa, können manchmal nur schwer ein Zugehörigkeitsgefühl entwickeln. Für pendelnde Kinder kommen weitere Herausforderungen hinzu: langfristige Terminabstimmungen, die aufregenden Reisen, die permanente Umstellung von einer Umgebung auf die andere.

Wie halten Kinder die Beziehung zu ihren Eltern aufrecht? Wie gehen sie mit dem Pendeln um? Wie nutzen sie die Reisezeit? Und wie gelingt das Umschalten zwischen zwei Familiensituationen?

In Deutschland liegen noch keine Untersuchungsergebnisse zu pendelnden Kindern vor. Die am Deutschen Jugendinstitut angesiedelte Schumpeter -Nachwuchsgruppe "Multilokalität von Familie"  führt von diesem Jahr an eine qualitative Studie durch und sucht dafür derzeit Teilnehmer. "Wir wollen erfahren, wie funktioniert die Aufrechterhaltung von Nähe, Familie, Gefühlen?", sagt die Leiterin der Gruppe, Michaela Schier.

Vor allem interessiert die Wissenschaftlerinnen: Welche Konsequenzen hat die Mobilität und das Aufwachsen in zwei Familien für Kinder und Jugendliche? "Man muss davon ausgehen, dass sie mit der Zeit Anpassungsstrategien entwickeln", sagt Schier.

"Wir wissen sehr wenig über reisende Kinder"

Die norwegische Soziologin An-Magritt Jensen befasst sich seit 1988 mit Familienkonstellationen in Norwegen und anderen europäischen Ländern. In ihrem Heimatland hat sie anhand einer nationalen Statistik die Situation von rund 2000 Kindern betrachtet, die nicht mit beiden Eltern leben. Rund 30 Prozent von ihnen brauchten für die Strecke zwischen Mama und Papa mehr als eine halbe Stunde mit dem Auto, dem Bus oder dem Flugzeug.

"Während die emotionale Bindung zu beiden Eltern durch das Pendeln gestärkt wird, wird die Verwurzelung geschwächt", sagt Jensen. Der normale Alltag von Kindern werde von ihrer Umgebung geprägt, also von Kindergarten oder Schule, von Freunden, Sportvereinen oder sonstigen Freizeitaktivitäten. "Das Pendeln beeinflusst ihr Netzwerk", so Jensen.

Die Hauptfrage sei, ob die dauerhafte Mobilität der Kinder tatsächlich eine Lösung für die veränderte Familiensituation nach einer Scheidung sei oder ob dadurch nicht neue Probleme geschaffen werden. "Ist es fair, dass die Kinder pendeln müssen?", fragt Jensen und fordert, auch andere Modelle in Betracht zu ziehen. "Uns muss zumindest bewusst sein, dass es Folgen für die Kinder haben könnte."

Eltern sind nicht mehr wie "die Tapete im Haus"

Leandro, Pheline und Sarah machen die regelmäßigen Reisen nicht viel aus, sagen sie. Sie alle fahren gern mit der Bahn, viel lieber als mit dem Auto. "Man braucht sich nicht anschnallen, man kann im Zug herumlaufen, und es sind andere Kinder dabei", sagt Leandro. "Schade, dass es so schnell geht", ergänzt Sarah.

Die Elfjährige ist seit drei Jahren Stammgast auf den Schienen. Mindestens einmal im Monat ist sie unterwegs, zwischen dem Vater in Hamburg und der Mutter, die in Münster lebt. Früher war das Pendeln eine Aufgabe für die ganze Familie, zeitaufwändig und anstrengend. Da sind die Eltern mit dem Auto gefahren und haben sich auf der Hälfte der Strecke auf einem Rasthof getroffen, um Sarah zu übergeben.

"Kinder zwischen fünf und zehn oder elf Jahren sind meist zufrieden damit, ihre Zeit zwischen den Eltern aufzuteilen", sagt Carol Smart, die von 1999 bis 2000 in Großbritannien eine qualitative Studie über geteiltes Sorgerecht durchgeführt hat. Jüngere Kinder dächten noch, dass beide Eltern ein Recht auf sie hätten, und gewöhnten sich einfach daran, zwei Elternhäuser zu haben. Im Teenageralter verweigerten sich jedoch manche - ihre Besuche würden weniger. Nach Ansicht von Smart ist es dann besonders wichtig, dass die Eltern flexibel sind.

Aus der Selbstverständlichkeit, Zeit mit Vater oder Mutter zu verbringen, werde durch das Pendeln ein Ausnahmezustand, was für die Kinder Anstrengung und Stress bedeuten könne. Andererseits: Die Zeit, die Kinder mit dem "anderen" Elternteil, meist dem Vater, verbringen, sei viel intensiver als früher. "Normalerweise sind die Eltern so etwas wie die Tapete im Haus - sie sind einfach da", so Smart. "Durch die Trennung besteht dann die Chance, dass die Kinder quasi einen Vater gewinnen."

Kinder können von der Situation profitieren

Auch für Leandro ist der Besuch bei seinem Vater immer etwas Besonderes, und: "Ich muss dort keine Hausaufgaben machen." Dass er drei Stunden mit dem Zug fahren muss, um seinen Vater zu sehen, macht ihm nichts aus, sagt er: "Wir sind eben Wandelmännchen."

Nach Einschätzung des Familiensoziologen Reinhard Sieder muss die Trennung der Eltern nicht zwangsläufig die Entwicklung der Kinder belasten. Wenn es gelingt, zwei neue familiäre Zuhause zu schaffen, könnten sie von der Situation sogar profitieren, sagt der Autor eines Buches über Patchwork-Familien. Durch das regelmäßige Hin- und Herwechseln zwischen den beiden Haushalten erlitten Kinder und Jugendliche nicht zwangsläufig einen anhaltenden "Kulturschock", sondern richteten sich oft aktiv und lernbereit auf die Situation ein.

Auch Leandro kann seiner Situation durchaus etwas Positives abgewinnen: Er habe sogar vier Zuhause. "Bei meiner Mama, bei meinem Papa, in unserer Ferienwohnung an der Nordsee und bei meinem besten Freund in Hamburg."

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