Vermisster Jeremie Ein Pflegekind verschwindet

Jeremie auf einem Fahndungsfoto der Polizei: Aus Pflegefamilie verschwunden
Foto: Polizei HamburgHamburg - Der Junge, der seit drei Tagen vergeblich von der Polizei gesucht wird, ist etwa 1,50 Meter groß, trägt eine graue Sporthose, eine schwarze Lederjacke und eine grüne Mütze. Jeremie, 11 Jahre alt, war seit knapp zwei Jahren als Pflegekind bei einem Wanderzirkus in Mecklenburg-Vorpommern untergebracht. Von dort soll er mit einem Kleintransporter nach Hamburg getürmt sein, wo seine Familie lebt.
Der Vermisstenfall erregt großes Aufsehen. Nicht nur, weil die Unterbringung eines Pflegekindes in einem Wanderzirkus ungewöhnlich erscheint und manche Hamburger Politiker bereits fragen: Was soll das? Nicht nur, weil schon wieder das Jugendamt Hamburg Mitte zuständig ist, das wegen schwerer Versäumnisse im Fall der toten Chantal in der Kritik steht. Sondern auch, weil die Großeltern des Jungen heftige Vorwürfe gegen die Pflegefamilie erheben.
Der Junge sei geschlagen worden, sagten die Mutter und die Großeltern der "Bild"-Zeitung und dem "Hamburger Abendblatt". Er habe für den Zirkus stehlen und betteln müssen. Mehrfach habe er in den vergangenen Monaten angerufen, weil er zurück nach Hause wollte. Eine Bestätigung dafür gibt es nicht. "Diese Vorwürfe sind völlig neu für uns", sagte eine Sprecherin des Bezirksamts Hamburg Mitte. Man werde sie prüfen. Den Angaben zufolge waren die Anschuldigungen vorher nie geäußert worden - obwohl es regelmäßigen Kontakt zu den Großeltern gegeben habe. Auch bei den Behörden in Mecklenburg-Vorpommern weiß man nichts von Problemen mit der Zirkusfamilie.
Kein Heim wollte Jeremie aufnehmen
Jeremies Eltern verloren das Sorgerecht nach Informationen von SPIEGEL ONLINE bereits, als ihr Sohn noch ein Baby war. Ein entscheidender Grund war die Drogensucht der Mutter. Jeremie wuchs bei den Großeltern im Hamburger Stadtteil Billstedt auf, der als sozialer Brennpunkt gilt. Offenbar kamen die Senioren nicht mit dem Jungen zurecht, sie sollen ihn geschlagen haben. Ein Familiengericht entschied, dass ihnen das Sorgerecht entzogen wird. Im Dezember 2010 kam Jeremie deshalb als Pflegekind zu der Zirkusfamilie nach Mecklenburg-Vorpommern.
Vermittelt wurde der Junge vom Neukirchener Erziehungsverein, der als freier Träger in der Kinder- und Jugendhilfe arbeitet. Der Verein mit Hauptsitz in Nordrhein-Westfalen hat ein Büro in Hamburg. Ein Schwerpunkt seiner Arbeit nennt sich "IndividualPädagogik" - eine speziell auf die Bedürfnisse einzelner Kinder oder Jugendlicher zugeschnittene Maßnahme. Diese kommt dem Verein zufolge in Betracht, wenn das Kind in Gruppen nicht gut zurechtkommt und ein überschaubares Umfeld braucht - etwa auf einem Bauernhof, einem Reiterhof oder eben in einer Zirkusfamilie.
Jeremie ist offenbar so ein Fall. Man habe kein Heim gefunden, das ihn aufnehmen wollte, sagte die Sprecherin des Hamburger Bezirksamts. Er sei wiederholt aggressiv gegen sich und andere geworden, teilte Amtsleiter Andy Grote (SPD) mit. Der Besuch einer Regelschule war nicht möglich. Die Entscheidung, Jeremie in der Zirkusfamilie unterzubringen, sei in Abstimmung mit allen Beteiligten - auch der Großeltern - getroffen worden, heißt es von der Behörde. Der Junge stamme aus einer Sinti-Familie, daher sei das Zirkusumfeld als "eine sehr geeignete Unterbringung empfunden worden".
"Nach unserer Kenntnis fühlte sich der Junge ganz wohl in der Zirkusfamilie", sagt Ulrich Schäfer vom Neukirchener Erziehungsverein. Jeremie soll zum Beispiel freiwillig morgens aufgestanden sein, um die Tiere zu füttern. In dem unsteten Lebenswandel der Zirkusfamilie sieht Schäfer kein Problem. Der Zusammenhalt in solchen Familien sei groß, man arbeite seit langem mit Zirkussen zusammen - und habe gute Erfahrungen gemacht.
Laut Schäfer war ein Mitarbeiter des Vereins fester Betreuer Jeremies und regelmäßig bei dem Jungen am Zirkus vor Ort - mindestens einmal im Monat. Nie habe es nach den Besuchen Berichte über problematische Verhältnisse gegeben. Die leiblichen Kinder der Zirkusfamilie seien "toll", sagt Schäfer, Jeremie sei das einzige und bislang auch erste Pflegekind in der Familie gewesen.
"Dubioser Fall"
Dass ein Hamburger Junge über einen freien Träger aus Nordrhein-Westfalen nach Mecklenburg-Vorpommern vermittelt wird, scheint dennoch ungewöhnlich. Von einem "dubiosen Fall" spricht die Bürgerschaftsfraktion der Hamburger Grünen, er müsse im Familienausschuss diskutiert werden.
Das Bezirksamt weist die Vorwürfe zurück. Die Pflegefamilie sei sorgfältig ausgewählt worden und habe angemessen erschienen, so die Sprecherin. "Bei extrem schwierigen Kindern und Jugendlichen greift man als Ultima Ratio auf ungewöhnliche Konzepte zurück. Und in diesem Fall schien das geboten."
Noch sind viele Fragen ungeklärt: Kann der Junge den Transporter der Zirkusfamilie allein hundert Kilometer weit gefahren haben? Schäfer und das Jugendamt bezweifeln das. Laut Polizei ist die Untersuchung des Fahrzeugs noch nicht abgeschlossen. Eine mögliche Theorie: Verwandte aus Hamburg haben den Jungen abgeholt.
Die Zirkusfamilie fühlt sich an den Pranger gestellt und arbeitet nach eigenen Angaben eng mit den Behörden zusammen. "Ich bin nervlich am Ende", sagte die Mutter. Zu den Details des Falles will sie sich nicht äußern. Derzeit haben die Artisten ihr Winterlager in der kleinen Stadt Lübtheen im Westen von Mecklenburg-Vorpommern aufgeschlagen.
Im Sommer war der Zirkus unter anderem im niedersächsischen Brake bei Oldenburg zu Gast. Im Bericht der Lokalzeitung wurde auch der elfjährige Sohn Jeremy zitiert. "Wenn ich groß bin", soll er damals gesagt haben, "möchte ich Zirkusdirektor werden."