
Flugzeugabsturz von Smolensk: "Wenn ich nicht lande, bringen sie mich um"
Pilot der Kaczynski-Maschine Sündenbock der Nation
Eltern verteidigen ihre Kinder oft bedingungslos. "Unseren Sohn trifft keine Schuld", wiederholen Lucyna und Wladyslaw Protasiuk immer wieder. Ein Jahr ist es her, dass ihr Sohn Arkadiusz die polnische Präsidentenmaschine im Landeanflug auf Smolensk bei dichtem Nebel in eine Baumgruppe steuerte, in der die Tupolew Tu-154M zerschellte. Der erst 36 Jahre alte Elitepilot riss Staatschef Lech Kaczynski und 94 weitere Menschen - darunter hochrangige Vertreter der polnischen Nation - mit sich in den Tod.
Als Kapitän hatte Protasiuk an jenem 10. April 2010 die Befehlsgewalt an Bord und trug die Verantwortung für Passagiere und Besatzung. Kann er trotzdem unschuldig sein? Die Ermittler stempelten Protasiuk nach der Katastrophe von Smolensk schnell zum Sündenbock ab. Ein Pilotenfehler, hieß es.
Bis heute ist das Gedenken an den Hauptmann der Luftwaffe von diesem Vorwurf überschattet. Und dennoch behauptet Vater Wladyslaw unerschütterlich, dass "mein Sohn mit Sicherheit alles getan hat, was in seiner Kraft stand, um diese Katastrophe zu verhindern".
Die Untersuchungen des Unglückshergangs, die immer wieder im politischen Klein-Klein zwischen Moskau und Warschau stecken geblieben sind, dauern bis heute an. Es gibt einen russischen Ermittlungsbericht, der die alleinige Schuld der polnischen Seite zuweist. Und es ist ein polnisches Dossier in Arbeit, das die russischen Fluglotsen mitverantwortlich macht.
Fest steht ein Jahr nach der Tragödie: Die Kraft des jungen Karriereoffiziers Arkadiusz Protasiuk, von der sein Vater spricht, reichte nicht aus, um im entscheidenden Moment nein zu sagen und die Landung in Smolensk zu verweigern.
"Wenn ich nicht lande, bringen sie mich um"
Die Flugbedingungen hätten ein Veto des Piloten zwingend erforderlich gemacht. Die Sichtweite betrug nur rund 200 Meter. Und der technisch miserabel ausgestattete Militär-Airport Smolensk-Sewerny verfügte nicht einmal über ein Landeleitsystem. Doch an Bord der Maschine befand sich Präsident Kaczynski, unterwegs in einer politisch äußerst heiklen Mission. Der Staatschef war auf dem Weg nach Katyn, um der Opfer des stalinistischen Massenmordes an Zehntausenden Polen im Jahr 1940 zu gedenken.
Im Vorfeld des Besuchs hatte es viel innenpolitischen Streit in Warschau und diplomatische Konflikte mit dem Kreml gegeben. Kaczynskis Widersacher, der liberale Premierminister Donald Tusk, setzte im Gegensatz zum nationalkonservativen Präsidenten auf eine Annäherung an Moskau. Tusk bootete Kaczynski aus und traf sich bereits am 7. April mit dem russischen Regierungschef Wladimir Putin in Katyn. Der Präsident wollte drei Tage später nachziehen. Wegen Nebels im letzten Augenblick abzudrehen, wäre in Kaczynskis Augen fraglos einer weiteren Niederlage gleichgekommen.
Die Situation war auch der Besatzung bekannt. "Wenn ich nicht lande, bringen sie mich um!" Dieser Satz, den der Stimmenrekorder der Unglücksmaschine aufgezeichnet hat, wird dem Piloten Arkadiusz Protasiuk zugeschrieben. Gesagt haben soll er ihn in einem unbeobachteten Moment, bevor er zum Anflug auf Smolensk-Sewerny ansetzte. Unbeobachtet von Luftwaffenchef Andrzej Blasik, der sich in der kritischen Phase des Fluges meist im Cockpit aufhielt. Blasik war angetrunken, im Blut seiner Leiche fanden sich später 0,6 Promille Alkohol. Und er drängte die Piloten zur Landung - ob im Auftrag von Präsident Kaczynski oder auf eigene Faust, konnten die Ermittler bislang nicht klären.
"Die Entscheidung in einer solchen Situation liegt beim Piloten", sagt Grzegorz Pietruczuk. Der Major der Luftwaffe hatte sich während des Kaukasus-Krieges 2008 geweigert, die polnische Präsidentenmaschine mit Lech Kaczynski an Bord in der georgischen Hauptstadt Tiflis zu landen. Es kam zu einem heftigen Streit zwischen dem Staatschef und dem Piloten, den Kaczynski schließlich als Feigling beschimpfte. Er warf dem Major vor, Schande über Polen zu bringen.
Protasiuk war ehrgeizig - aber kein Träumer
Arkadiusz Protasiuk kannte diese Episode - er war 2008 Co-Pilot von Pietruczuk. Hatte er hier und jetzt, über Smolensk, Angst, als Feigling zu gelten oder womöglich mit Schimpf und Schande vom Kasernenhof gejagt zu werden? Das Militär war Protasiuks Leben. Er hatte zwar zunächst Politikwissenschaft und Sprachen studiert. Doch sein Traum war die Fliegerei bei der Luftwaffe, am liebsten im Cockpit der Präsidentenmaschine. Mit Ehrgeiz und Begabung erreichte er sein Ziel früh.
Arkadiusz Protasiuk galt nicht als naiver Träumer. Vater Wladyslaw sagt, sein Sohn habe "nie unnötige Risiken auf sich genommen". Der Pilot wusste an jenem 10. April nur zu gut, dass ihm Trainingsstunden für extreme Wettersituationen fehlten. Zudem gab es Warnungen aus dem Tower von Smolensk. Die russischen Fluglotsen rieten mehrfach von einer Landung ab. Zu Hause warteten seine Frau Magda und zwei kleine Kinder. Der Pilot setzte dennoch zur Landung an. Es war der Fehler des Sündenbocks.
Vater Wladyslaw Protasiuk will es bei dieser Rolle für seinen Sohn nicht belassen. Die Präsidentenmaschine sei von den russischen Lotsen bewusst in die Irre geführt worden, behauptet er. Tatsächlich hat der Tower das Cockpit zu spät vor einer gravierenden Kursabweichung beim Landeanflug gewarnt. Doch für einen Anschlag, von dem Vater Protasiuk spricht, gebe es auch nach neuesten Erkenntnissen der polnischen Militärstaatsanwaltschaft keinerlei Anhaltspunkte. Darauf wiesen die Ermittler kurz vor dem Jahrestag der Katastrophe nochmals ausdrücklich hin.
Dennoch haben Verschwörungstheorien in Polen Hochkonjunktur. Von künstlich erzeugtem Nebel ist da die Rede, mit dem der russische Geheimdienst die polnische Präsidentenmaschine in die Falle gelockt habe. Ex-Premier Jaroslaw Kaczynski, der Bruder des tödlich verunglückten Staatschefs, macht sich diese Stimmungslage bei einem Teil der Bevölkerung zunutze und weist der Regierung von Donald Tusk eine Mitschuld an dem Absturz zu. Tusks Streit mit seinem Bruder Lech über das Katyn-Gedenken habe vor einem Jahr den Unglücksflug nach Smolensk erst erzwungen.
Der politische Streit macht nicht einmal vor den Familien der Opfer halt. Zum Jahrestag am kommenden Sonntag gedenken sie der Toten in getrennten Veranstaltungen. "Wenn zweifelsfrei bewiesen ist, dass mein Sohn die Verantwortung für die Katastrophe trägt, stelle ich mich vor die Familien der Toten hin und bitte sie in seinem Namen um Vergebung", hatte Vater Wladyslaw Protasiuk angekündigt. Doch vorerst verteidigt er seinen Sohn - bedingungslos.