
Bundestagswahl: Mit "Straßenwahl" in der Tagesstätte
Aktion zur Bundestagswahl Wie Obdachlose abstimmen können
Es ist elf Uhr morgens. Die Tagesaufenthaltsstätte für Obdachlose in der Bundesstraße hat seit wenigen Minuten geöffnet, ein unscheinbarer Neubau gegenüber der altehrwürdigen Backsteinfassade eines Hamburger Gymnasiums. In der Luft hängt der Geruch von nasser Kleidung, Putzmitteln und dem Mittagessen, das bereits in der Küche köchelt. Spaghetti Bolognese. Vor der Rezeption aus Sperrholzplatten stehen Menschen in der Warteschlange für die Essensmarken.
An einer Wand hängt ein Aufruf zur Bundestagswahl. Darunter stehen drei Leute in schwarzen T-Shirts mit einem großen weißen S darauf. Das S steht für Straßenwahl, ein Projekt des Hamburger Vereins "Straßenblues". Die freiwilligen Helfer haben Tablets dabei, um mit den Obdachlosen die Fragen des Wahl-O-Mat durchzugehen. In den Wochen vor der Wahl gehen sie in drei Obdachloseneinrichtungen in Hamburg und zeigen den Menschen dort, dass und wie sie wählen können.
Denn Obdach- und Wohnungslose in Deutschland sind wahlberechtigt - auch ohne Personalausweis und festen Wohnsitz. Als Deutsche können sie einen Antrag auf Eintragung ins Wählerverzeichnis stellen. Darin müssen sie "an Eides statt" versichern, dass Sie deutsche Staatsbürger sind und zusätzlich bestätigen, dass sie in den drei Monaten vor der Wahl in Hamburg übernachtet haben und nirgends für eine Wohnung gemeldet sind. Familienname, Vorname, Geburtstag und Unterschrift - fertig ist der Antrag.
"Sie glauben, ihre Stimme zählt nicht"
Der große Aufenthaltsraum füllt sich allmählich. 120 bis 150 Menschen kommen jeden Tag in die Tagesstätte, schätzt ihr Leiter Uwe Martiny. Sie bekommen dort eine warme Mahlzeit, können duschen, Wäsche waschen, telefonieren und ins Internet gehen. Manche sind in Gespräche vertieft, andere bleiben für sich, lesen Zeitung, trinken Kaffee oder sitzen einfach nur da.
Martiny, ein großer Mann, der wirkt, als könne ihn nichts aus der Ruhe bringen, kündigt die Helfer von "Straßenwahl" an, erklärt das Projekt und ermutigt, die Sache doch mal auszuprobieren. Nur wenige heben den Blick von der Zeitung oder unterbrechen ihr Gespräch. Nikolas Migut, Gründer des Projekts "Straßenblues", versucht es ebenfalls, spricht etwas lauter: "Jede Stimme zählt", sagt er nachdrücklich. Noch immer hält sich die Aufmerksamkeit in Grenzen. Schließlich legen die Helfer einfach los.
In einer Ecke des Aufenthaltsraums sitzt Eva. Pinkfarbene Hose, gelbe Socken, Halstuch mit Paisley-Muster. Hinter einer Brille, die in der Mitte von Klebeband zusammengehalten wird, huscht ihr Blick unruhig durch den Raum. Migut tritt an ihren Tisch und fragt, ob er sich setzen darf. "Ich kenn diesen Wahl-O-Mat nicht, aber ich probier's gerne mal aus", sagt Eva und lässt sich eine Frage nach der anderen von Migut vorlesen.

Bundestagswahl: Mit "Straßenwahl" in der Tagesstätte
Sie überlegt nicht lange, antwortet schnell und souverän: Dieselsteuer? Ja. Obergrenze für Flüchtlinge? Neutral. Sozialer Wohnungsbau? Ja. Bedingungsloses Grundeinkommen? Nein. Nach der letzten Frage wählt Eva die Parteien aus und Migut reicht ihr das Tablet mit dem Ergebnis über den Tisch: "Das will ich gar nicht sehen, das ist für dich", sagt er. Etwas unbeholfen tippt Eva auf dem Bildschirm herum, liest sich die Auswertung zu ein, zwei Parteien durch, schiebt das Tablet zurück und bedankt sich. Migut geht zum nächsten Tisch.
"Ich wusste schon vorher, wen ich wähle, ich gehe schon immer wählen", sagt Eva. "Trotzdem nehme ich das wahr - weil ich neugierig bin." Die 62-Jährige ist überzeugt davon, dass man einiges erreichen könnte, wenn nur mehr Leute wählen gehen würden. "Aber vielen ist das einfach gleichgültig oder sie glauben, ihre Stimme zählt sowieso nicht." Eva wohnt seit sechs Jahren in einem Frauenhaus in Hamburg. Sie stimmt per Briefwahl ab.
"Tante Merkel, die macht schon viel Gutes"
Laut Hamburgs Landeswahlleiter Oliver Rudolf haben sich bei der vergangenen Bundestagswahl 57 wohnungslose Hamburger in das Wählerverzeichnis aufnehmen lassen. "Ob die dann auch alle eine Stimme abgegeben haben, weiß ich natürlich nicht", sagt Rudolf. In diesem Jahr haben sich gut eine Woche vor dem Stichtag bereits 56 Obdach- und Wohnungslose registriert. Als obdachlos gelten Menschen, die auf der Straße leben oder in Notunterkünften unterkommen und keinen festen Wohnsitz haben. Wohnungslos ist dagegen, wer in Heimen mit begrenzter Aufenthaltsdauer wohnt, beispielsweise in Frauenhäusern oder Übergangswohnheimen.
Gäste mit differenzierten Meinungen und politischem Interesse seien keine Seltenheit, sagt Tagesstättenleiter Martiny. Natürlich erlebe er auch die typischen "Sündenbockspielchen", wie er es nennt: Beschwerden wie "Die Flüchtlinge bekommen so viel" oder "Für uns tut ja keiner was". Aber das sei eben nur die eine Seite.
"Tante Merkel, die macht schon viel Gutes, aber eben nicht genug für die Armen", sagt Ralf. Den Wahl-O-Mat hat der 67-jährige Wohnungslose gerade entschieden abgelehnt: "Das interessiert mich nicht, ich weiß genug über die Parteien aus Fernsehen und Co." Selbstverständlich gehe er wählen. Auch Bernd, 65, braucht keinen Wahl-O-Mat, um zu wissen, dass er sein Kreuz am 24. September bei den Linken machen wird - "auch wenn die Wagenknecht immer ein bisschen blasiert wirkt".
Zuhören und einander auf Augenhöhe begegnen
Nach eineinhalb Stunden tauschen die ersten Gäste ihre Essensmarke gegen eine Portion Spaghetti Bolognese, und die drei "Straßenwahl"-Helfer ziehen sich zurück. Die Bilanz: Ein großer Teil der Anwesenden ist nicht wahlberechtigt, rund 70 Prozent der Leute kommen nicht aus Deutschland, schätzt Tagesstättenleiter Martiny. Für viele der anderen Besucher sei es eine Selbstverständlichkeit, zu wählen, sagt "Straßenwahl"-Aktivist Henning Wirtz. Nur mit einem überzeugten Nicht-Wähler habe er sich unterhalten. Auch Migut ist zufrieden. Ihm sei aufgefallen, dass die Wohnungslosen am Ende des Wahl-O-Mat eher die kleineren Parteien wie die Partei der Humanisten oder Die Grauen für den Vergleich ausgewählt haben. "Viele sehen sich von den großen Parteien wohl nicht ausreichend vertreten."
Dass die Aktivisten heute offenbar niemanden inspirieren konnten, an die Wahlurne zu gehen, stört Migut nicht. "Am Ende ist es mir egal, ob 57 oder 87 wählen gehen." Die Grundidee von "Straßenblues" sei es, mit den Menschen zu reden, ihnen zuzuhören und ihnen auf Augenhöhe zu begegnen. "Das ist mir viel wichtiger als die Frage, ob sie danach wirklich wählen gehen oder nicht."
Trotzdem: Außer Wohnungs- und Obdachlosen soll das Projekt "Straßenwahl" auch Nichtwähler und Politikverdrossene zum Nachdenken anregen. Dazu hat der Verein eine Plakataktion in Hamburg, Berlin, München, Stuttgart und Köln gestartet. Gesicht der Kampagne ist Horst, 61, wohnungslos und aus Hamburg. Auf dem Plakat hat er die Zeigefinger zu einem Kreuz in die Kamera gerichtet, darum ein roter Kreis. Die Botschaft: "Jede Stimme zählt."