Psychologe über chilenische Bergleute "Einfach eine extrem lange Schicht"

Das Ende des chilenischen Minen-Dramas naht: Am Mittwoch sollen die ersten der 33 verschütteten Bergleute geborgen werden. Nun beginnt die mentale Vorbereitung der Arbeiter auf die Befreiung. Die Männer werden gestärkt aus der Erfahrung hervorgehen, meint der Chefpsychologe des Rettungsteams.
Video eines Verschütteten im Bergwerk San José: "Was sollten sie jetzt noch befürchten?"

Video eines Verschütteten im Bergwerk San José: "Was sollten sie jetzt noch befürchten?"

Foto: Codelco/ dpa

Caldera/Bergwerk San José - 33 Männer, 66 Tage in 700 Metern Tiefe und ewiger Dunkelheit: Nach mehr als zwei Monaten des Wartens und Hoffens sollen die ersten der in einer Gold- und Kupfermine verschütteten Bergleute Anfang kommender Woche aus ihrem unterirdischen Verlies befreit werden. Die Bergung der Männer könne wahrscheinlich am Mittwoch beginnen, sagte Bergbauminister Laurence Golborne. Am Samstag waren die Rettungskräfte mit dem Bergungsschacht zu den Verschütteten vorgedrungen.

Die 33 Kumpel harren seit dem 5. August in der Tiefe aus, nachdem die Mine San José in der Atacama-Wüste im Norden Chiles eingestürzt war. Sie galten bereits als tot, als die Bergungsmannschaften 17 Tage nach dem Einsturz ein Lebenszeichen von ihnen vernahm. In einem Wettlauf gegen die Zeit begannen darauf die Bohrungen.

Mit Hupkonzerten und dem Läuten der Bergwerksglocke wurde die Fertigstellung des Rettungsschachtes in 622 Meter Tiefe um 8.05 Uhr Ortszeit verkündet. Ingenieure und Arbeiter fielen sich vor Freude in die Arme, Hunderte Angehörige bejubelten die Retter und ließen sich mit ihnen fotografieren. Vielen standen die Tränen in den Augen. "Das überwältigt mich", sagte Gaston Henriquez, Bruder eines Bergmanns. "Ich kann mir nur vorstellen, was mein Bruder da unten fühlen muss." Es gehe den Bergleuten gut, "sie sind sehr froh", sagte der für die Kumpel zuständige Arzt Jean Romagnoli der Nachrichtenagentur AFP. "Sie sind in einer sehr guten körperlichen Verfassung und zuversichtlich."

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Foto: Marcelo Hernandez/ dpa

Neben den technischen Vorbereitungen auf die Bergung sind die Retter auch mit der mentalen Verfassung der Männer nach der Extremerfahrung beschäftigt. "Sie haben dem Tod ins Auge geschaut und werden am Tag der Rettung so etwas wie eine Wiedergeburt erleben", sagte der Chefpsychologe des Rettungsteams, Alberto Iturra, der Nachrichtenagentur dpa. Doch Iturra ist zuversichtlich: "In einem Jahr werden sie ein zufriedeneres Leben führen als vor dem Grubenunglück."

"Sie werden sehr glücklich sein"

Die Männer, sagt Iturra, seien psychisch und körperlich sehr belastbar und besäßen vor allem eine große Selbstdisziplin. "Sie sind dem Tode von der Schippe gesprungen. Was sollten sie jetzt noch befürchten, wovor Angst haben?" Länger als zwei Wochen dauerte es, bis die Verschütteten nach dem Unglück entdeckt und dann versorgt wurden. "Sie haben 17 Tage nur von zwei Löffeln Thunfisch und einem Löffel Milch pro Tag und Person überlebt", erzählt der Psychologe. Der zu erwartende Medienansturm nach der Rettung werde die Bergarbeiter deshalb nicht aus der Bahn werfen. "Sie werden sehr glücklich sein."

Am wichtigsten sei für die Männer das Bewusstsein, dass in Chile niemand aufgegeben werde und sie auf Hilfe rechnen konnten, berichtet Iturra von seinen fast täglichen Unterhaltungen, die er über eine Sprechverbindung mit den Eingeschlossenen führt. Sein Rezept für die Stabilisierung der anfangs deprimierten Kumpel sei es gewesen, die psychologische Notbetreuung in eine Art Beschäftigungstherapie umzuwandeln. "Für sie war es von da an einfach eine extrem lange Schicht."

Wichtig sei dabei die Einführung und Befolgung einer strengen Tagesroutine gewesen, die sich in Schlafen, Arbeit und Freizeit unterteilte. Ein Zeichen seelischer Gesundheit ist dabei für Iturra, dass die Bergleute trotz der harten Lebensumstände unter Tage ihren Humor und ihre Höflichkeit bewahrt hätten. "Sie halten sich sauber und machen sich extra schick, wenn sie über das Bildtelefon mit ihren Frauen sprechen." Es habe aber auch viele schwierige Augenblicke gegeben: Die Sehnsucht nach ihren Kinder, Eltern und Frauen sowie komplizierte Liebesverhältnisse hätten den Eingeschlossenen und deren Angehörigen sehr zugesetzt.

Auch der Psychologe geriet während der zweimonatigen Betreuung der Bergleute in ein Wechselbad der Gefühle "Ich habe fast jeden Tag geweint", erzählt Iturra. "Einmal sagte mir einer von ihnen, seine zweijährige Tochter sei traurig, weil sie seine Stimme so lange nicht gehört habe. Wir fanden das Mädchen mit dem Rest ihrer Familie bei der Mine. Das kleine Mädchen erschien bockig und verschlossen. Aber als sie die Stimme ihres Vaters hörte, begann ihr Gesicht vor Freude zu leuchten. Solche Geschichten habe ich hier fast jeden Tag erlebt."

"Das Gestein ist sehr, sehr hart"

Die letzten vier Meter Gestein hatten die Rettungskräfte am Samstag mit besonderer Vorsicht durchstoßen, um einen Einsturz des Schachtes zu vermeiden. "Man kann durch eine Kamera sehen, dass der Schacht in einem sehr guten Zustand ist, das Gestein ist sehr, sehr hart", sagte der Chef der für die Bohrung zuständigen Firma Geotec, Pedro Buttazzoni, dem Fernsehsender TVN. Bergbauminister Golborne erklärte, es müssten nur 96 Meter des Schachtes zur Stabilisierung mit Metall ausgekleidet werden. Dies werde anderthalb Tage in Anspruch nehmen.

Ursprünglich war davon ausgegangen worden, dass der gesamte Schacht stabilisiert werden muss, bevor die Bergleute einzeln mit einer Rettungskapsel an die Erdoberfläche geholt werden können. Die Installation des Bergungsgeräts wird laut Golborne nochmals 48 Stunden dauern, so dass die Rettungsaktion voraussichtlich am Mittwoch anlaufen könne. Bis Freitag könnten dann alle Verschütteten aus dem Berg befreit sein - pro Mann rechnen die Retter mit anderthalb bis zwei Stunden.

Nach so langem Warten geht es den Angehörigen jetzt nicht um Schnelligkeit. "Sie sollten jede Vorsichtsmaßnahme ergreifen, die nötig ist", sagte Nelly Bugueno, Mutter des Bergmanns Victor Zamora. "Wir wollen nicht, dass irgendetwas im letzten Moment schiefgeht."

Als Erstes sollen einige der körperlich und geistig belastbarsten Bergleute heraufgeholt werden, um das Rettungssystem zu testen. Wenn sich das Bergungsprocedere eingespielt hat, sollen die Schwächsten aus der Gruppe kommen, die unter Gesundheitsproblemen wie hohem Blutdruck oder Lungenproblemen leiden. Den Schluss soll dann eine weitere Gruppe bilden, die als stark genug gilt, um bis zuletzt unter Tage auszuharren.

Chiles Präsident Sebastián Piñera schlug vor, dass die Kirchenglocken im ganzen Land läuten sollen, wenn die Bergleute an die Erdoberfläche kommen. Er will bei der Rettung persönlich dabei sein. Boliviens Präsident Evo Morales wollte nach eigenen Angaben einer Einladung Piñeras folgen und ebenfalls der Bergung beiwohnen - einer der 33 Kumpel ist Bolivianer. Neben Angehörigen, Politikern und Schaulustigen dürften sich auch rund tausend Journalisten während der Rettungsaktion um die Bergungsstelle drängen.

bor/dpa/AFP
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