Randale in England Schlussverkauf in der Hölle

Das lodernde Inferno in Englands Großstädten schockt die britische Gesellschaft. Nicht Protest trieb die brutal zuschlagenden Plünderer auf die Straßen, sondern reiner Konsumrausch. Banker, Politiker und Medienmogule haben die Gier salonfähig gemacht.
Student Ashraf Haziq (rechts): Erst überfallen und verletzt, dann ausgeraubt

Student Ashraf Haziq (rechts): Erst überfallen und verletzt, dann ausgeraubt

Foto: AP/ Sky/ Abdul Hamid

Ashraf Haziq ist 20 Jahre alt, ein Student aus Malaysia. Er fastete für den Ramadan und hatte das Pech, letzte Woche mit seinem Fahrrad in Barking, einem Stadtteil im Osten Londons, unterwegs zu sein.

Erst kam eine Gang von Kindern. Sie bedrohten ihn mit Messern, brachen ihm den Kiefer und klauten ihm das Rad. Als er benommen auf dem Bürgersteig saß, auf das Blut starrte, das aus seinem Gesicht auf den Boden tropfte, kam die nächste Gang. Die Mitglieder waren älter, zum Teil vermummt. Einer half ihm auf die Beine, stützte ihn, aber die vermeintliche Rettung war nur ein Ablenkungsmanöver. Denn gleichzeitig räumte ein anderer aus der Gang den Rucksack des Verletzten aus, warf einen Teil der Beute weg, steckte den Rest in die Tasche. Breit grinsend, tänzelnd vor Freude.

Es waren Bilder wie diese, die mit der Legende aufräumten, bei den Krawallen in Britannien handele es sich um Proteste oder eine Revolte. Um ein Aufbegehren der Jugend, wie es in anderen europäischen Ländern gegen die Sparbeschlüsse der Regierungen stattgefunden hatte.

Nichts dergleichen. Das, was auf den Straßen Londons und in anderen Städten Englands vergangene Woche geschah, war brutal und voller Enthusiasmus, und es ging darum, maximalen Schaden anzurichten, und sei es nur bei Passanten, die zufällig des Weges kamen oder im Weg standen. Als ob die Gang aus Kubricks Film "A Clockwork Orange" von der Leinwand hinabgestiegen war und sich mit Blackberrys gewappnet hatte.

Zu den Opfern gehörten zum Beispiel die drei Söhne pakistanischer Einwanderer, die sich auf einen Bürgersteig in Birmingham gestellt hatten, um die Tankstelle eines Freundes zu schützen und von einem Auto umgemäht wurden. Es gab andere Opfer, wie den alten Mann im karierten Hemd, der einen brennenden Mülleimer löschen wollte und so zusammengetreten wurde, dass er später starb. Und es gab diese ältere, schwarze Lady, die im Osten Londons auf einer mit Müll übersäten Straße stand, hinter sich eine Wand, beschmiert mit obszönen Graffiti, und in die Nacht schimpfte: "You lot piss me the fuck off! Ich schäme mich, jemand aus Hackney zu sein. Weil wir uns nicht versammeln und für eine Sache kämpfen, sondern nur zu Foot Locker rennen und Schuhe klauen."

Mit anderen Worten: Es war wie ein Sale in der Hölle. Nur dass die Gierigen nicht mit Pfund Sterling bezahlten, sondern mit der Zerstörung ihres eigenen Stadtviertels.

"O2, O2, O2, O2"-Gesänge beim Plündern

Vor allem auf Markenartikel hatten es die Krawallmacher abgesehen, und wenn man dabei ein paar Polizisten verprügeln konnte, schien dies den Spaß an der Sache noch zu steigern. "Alle nach Tottenham jetzt", twitterte einer namens "English Frank", "fuck the police, hoffe, wir bringen einen um diese Nacht." Worauf jemand namens "Sonny Twag" zurücktwitterte: "Auf nach Tottenham, um zu plündern. Ich will einen Fernseher umsonst. Wer will das nicht?"

Getwittert, getan. Es durfte auch gern etwas teurer sein. Im Londoner Stadtteil Camden brach der Mob durch die Scheiben eines O2-Ladens, sammelte Mobiltelefone ein, singend, als sei er auf einem Fußballspiel: "O2, O2, O2, O2". In Manchester plünderten sie T-Mobile, die Klamottenläden French Connection und Miss Selfridge, das Kaufhaus Marks & Spencer, den Juwelier Swarovski und die neu eröffnete Boutique des ehemaligen Oasis-Sängers Liam Gallagher. Im Londoner Viertel Clapham nahmen sie ein ganzes Einkaufszentrum auseinander - das Einzige, was verschont blieb, war eine Buchhandlung. Nein, nein, sie schützten nicht die Bücher, die Bücher waren ihnen total schnuppe.

Revolutionsromantiker trauten ihren Augen nicht. Das war kein "Macht kaputt, was euch kaputt macht", sondern Warenfetischismus in seiner giftigsten Form. Manche probierten die Klamotten sogar an, bevor sie sie in Designertüten stopften.

Als das Inferno loderte, rieben sich Politiker, Medien und Kommentatoren die Augen. Dabei gab es Mahner, zu ihnen hatte auch einmal David Cameron gehört. Bevor er Premierminister wurde, hatte er das Großbritannien der Nullerjahre als "broken society", als "kaputte Gesellschaft" diagnostiziert. Einmal an der Macht, wollte er davon nicht mehr viel wissen.

Schulzuschüsse an Kinder einkommensschwacher Familien - gestrichen. Gestrichen in vielen Vierteln auch die Zentren für Jugendliche, mitsamt den Beratungsstellen für Arbeitslose und Schwangere. Gestrichen allein in einem Stadtteil wie Lewisham fünf Bibliotheken. Wie geht es weiter? Wo ist das Ende? Das Limit? Der Boden? Es gibt keinen. Im Bezirk Haringey, zu dem der Stadtteil Tottenham gehört, sollen in den nächsten drei Jahren 75 Prozent der Youth Services eingespart werden.

Kann man so die "broken society" reparieren?

"Von Fäusten zu Messern, von Messern zu Schusswaffen"

Dabei gäbe es eine Menge zu tun. Denn Großbritannien, das Land, in dem der Graben zwischen Arm und Reich immer noch so tief ist wie sonst kaum irgendwo in der westlichen Welt, ist besonders für die Kinder der Armen oft ein erbärmlich hartes Pflaster. Laut einer Unicef-Studie wird das Königreich unter den 21 wichtigsten Industrienationen als das kinderfeindlichste eingestuft. Es hält mit 3,4 Millionen Kindern, die unterhalb der Armutsgrenze aufwachsen, einen traurigen Rekord. Und wer das Pech hat, in einem miesen Viertel groß werden zu müssen, für den gehören Prügel und Überfälle zum Alltag. 60 Prozent der Kinder werden im Alter zwischen 10 und 15 Jahren mindestens einmal zum Opfer von Straftaten.

Das Durchschnittsalter derer, für die solche Konfrontationen tödlich enden, ist in den letzten Jahren von 24 Jahre auf 19 gesunken. Es ist "wie Evolution", sagt ein Gangsterveteran aus Nottingham über die Eskalation der Gewalt unter den Teenagern der Inner Cities: "von Fäusten zu Messern, von Messern zu Schusswaffen".

Die Anlässe sind nichtig. Oft geht es um Drogen, ein Mobiltelefon oder nur ein Paar Turnschuhe. Die dramatisch gesunkene Gewaltschwelle kann jeden treffen, Unbeteiligte wie jenen jungen Mann, der es beispielsweise nicht in Ordnung fand, dass Jugendliche einen angebissenen Schokoriegel in das Auto seiner Schwester warfen. Er stellte sie zur Rede und wurde kurzerhand erstochen.

Die Liste solcher Beispiele ist lang, und es ist kaum verwunderlich, dass die britische Polizei längst Zivilisten davon abrät, gewalttätigen Jugendlichen entgegenzutreten. Männer, die es dennoch tun, wie der Londoner Schriftsteller Andrew Anthony, ziehen nicht nur den Zorn der Schläger auf sich, sondern auch die Wut anderer Passanten. Anthony war eingeschritten, als er erlebte, wie zehn Mädchen das Gesicht einer anderen Jugendlichen mit einer abgebrochenen Flasche malträtierten. Als er die Gang in die Flucht geschlagen hatte, fragte Anthony einen anderen Passanten, warum der nichts unternommen habe. Die Antwort: "Lass mich in Ruhe, du aufgeblasener Arsch. Warum sollte ich mich einmischen? Das Ganze hatte nichts mit mir zu tun."

"Keiner hat mir je eine Chance gegeben"

Dieser trostlose Alltag aus Drogen, Rumhängen und Waffen in den Vierteln, die durch Margaret Thatchers Politik in den achtziger Jahren verwüstet und von Blair und Brown nie wirklich repariert wurden, ist das Schicksal jener, die in Großbritannien als "Neets" bezeichnet werden: "Not in education, employment or training". 1,2 Millionen Menschen, die nicht in Ausbildung, Beschäftigung oder Weiterbildung sind, sie regieren ihre Viertel nach dem Recht des Stärkeren, mit einem Gefühl tiefer Nutzlosigkeit in einer Welt, in der fast jede Freizeitaktivität Geld kostet, das sie nicht haben.

Louis James heißt einer dieser Neets, und Reporter der "New York Times" sprachen ihn an, weil er einen Pullover im Wert von 120 Pfund bei den Plünderungen geklaut hatte. James, 19, lebt in Nordlondon, die Miete bezahlt der Staat, alle zwei Wochen bekommt er 77 Pfund Stütze. Die Suche nach Arbeit hat er aufgegeben, die Schule mit 15 verlassen, lesen kann er erst seit drei Jahren. Die Mutter hat kaum Geld für sich und seine Stiefgeschwister, der Vater, ein Heroinsüchtiger, ist tot. "Keiner hat mir je eine Chance gegeben", sagt James. "Ich bin wütend, wie das System funktioniert. Sie geben mir gerade genug, um zu essen und den ganzen Tag fernzusehen."

Die Werte, die Großbritannien einmal zum Vorbild für den Rest der Welt werden ließen, sind nie angekommen bei Menschen wie James: Selbstverantwortung, Individualität, Common Sense, Stoizismus, Understatement, Disziplin. Wer hätte sie ihm beibringen können? Die Eltern? Die Freunde? Die Eliten, die sich erst in teuren Privatschulen abkapseln, hinterher 70 Prozent der gutbezahlten Jobs im Land besetzen und wahrscheinlich lieber eine Lepra-Kolonie besuchen würden als einen Stadtteil wie Tottenham?

Den eigentlichen öffentlichen Ton gab in den vergangenen 30 Jahren ohnehin einer vor: Rupert Murdoch, der australische Medienmogul, der das moderne Großbritannien mehr prägte als jeder britische Politiker, Unternehmer oder Intellektuelle. Zusammen mit Margaret Thatcher brach Murdoch in den achtziger Jahren die Macht der Gewerkschaften, befeuerte die Entfesselung der Märkte, zusammen mit dem aufstrebenden Finanzsektor der City of London machte er die Gier salonfähig und so aus den Briten eine Nation von Shoppern, in der nun vor allem eines zählte: "Loads of Money".

Alle zitterten vor Murdoch

Alle berauschten sich an dieser lauten, ruppigen Konsumkultur. Die Banker sowieso, mit ihren Booten samt Hubschrauberlandeplatz, aber wie sich beim Spesenskandal vor zwei Jahren herausstellte, auch viele Politiker. Es gab Konservative, die ihre Burggräben und Entenhäuser mit Steuergeldern finanzierten. Es gab Labour-Abgeordnete, die funkelnde Klobrillen und seidene Kissen abrechneten. Es gab den ersten Unterhausvorsitzenden seit dem Jahr 1695, der zurücktreten musste, weil aufgeflogen war, dass er für mehr als 4000 Pfund Taxiquittungen abgerechnet hatte, die seine Frau bei ihren Shoppingtouren angesammelt hatte.

Sie alle zitterten nicht vor dem Wähler, sondern vor Murdoch und seinem Medienimperium. Als Gordon Brown von der Chefredakteurin der "Sun" erfuhr, dass eine auf zweifelhafte Weise recherchierte Geschichte über die schwere Krankheit seines Sohnes am nächsten Tag die Zeitung zieren würde, weinten Brown und seine Frau einen Nachmittag lang. Danach galt wieder: Business as usual mit den Murdochs.

"Bereichert euch lieber heute als morgen." "Du bist, was du kaufst." Das ist jener von der grellen Geldkultur produzierte Nihilismus, der sich über die Stadt an der Themse legte wie früher der Nebel. Die wenigsten konnten sich ihm entziehen, nicht das Königshaus, nicht das Parlament, nicht die Polizei und auch nicht die Sängerin Amy Winehouse, ein Jahrhunderttalent. Auch sie lieferte sich den Paparazzi und dem Klatsch aus, der Ruhm war ihre Zusatzdroge.

"Die Konsumgesellschaft beruht auf der Fähigkeit, an ihr teilnehmen zu können", sagt Alex Hiller, ein Marketingexperte an der Business School in Nottingham. "Man braucht dazu kürzere Arbeitszeiten, höhere Löhne und Kredite. Mit Leuten, die nur niedrige oder gar keine Löhne haben und auch keine Kredite bekommen, funktioniert dieser neue Gesellschaftsvertrag nicht."

So gingen sie trotzdem shoppen wie die Beckhams. Allerdings mit einem Flammenwerfer in der Hand statt der schwarzen Karte von American Express.

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