Bereute Mutterschaft "Nennen Sie es einen gesunden Egoismus"

Eine Frau, 49 Jahre alt, hat drei Kinder - und denkt heute, sie wäre am liebsten nie Mutter geworden. Wie kann ihre älteste Tochter damit leben?
Die Mutter

Die Mutter

Foto: SPIEGEL ONLINE

Ein Ort im Süden Bayerns, nicht klein, nicht groß, eine Kirche prägt das Zentrum, von ihren Einflüssen wird noch die Rede sein. Vor dem Haus ein Carport, an der Tür ein Klingelschild mit den Namen von Herrn und Frau Bayer, die hier mit ihren drei Kindern wohnen.

Die Namen sind in Wahrheit andere, und auch der Ort darf nicht genannt werden. Frau Bayer empfängt zum Interview, aber sie möchte nicht mit dem Thema der nächsten zwei Stunden in Verbindung gebracht werden: Die 49-Jährige bereut es, Mutter zu sein.

Das Phänomen "Regretting Motherhood" kam vor etwa einem Jahr auf. Damals veröffentlichte die israelische Soziologin Orna Donath eine Studie, in der 23 Mütter anonym ihr Bereuen erklärten. Die Soziologin Christina Mundlos veröffentlichte später das Buch "Wenn Mutter sein nicht glücklich macht", in dem Mütter aus Deutschland zu Wort kommen.

In letzter Zeit ist über das Phänomen viel geschrieben und gesprochen worden - nur: Was haben eigentlich die Kinder solcher Mütter dazu zu sagen? Zum ersten Mal will Frau Bayer gemeinsam mit ihrer ältesten Tochter, 19, Fragen beantworten.

SPIEGEL ONLINE: Frau Bayer, warum haben Sie Kinder?

Mutter: Ich bin so aufgewachsen. Kinder gehören zu einer Ehe, das habe ich gar nicht hinterfragt. Die Region hier ist sehr ländlich, ur-religiös, katholisch. Als ich vor 20 Jahren meinen Mann geheiratet habe, fragten viele sofort: Wann kommen die Kinder? Die Situation, dass Kinder eine freie Entscheidung sind, die kenne ich nicht. Ich wurde dann ziemlich schnell schwanger.

SPIEGEL ONLINE: Wie war das?

Mutter: Die Schwangerschaft war nicht leicht, und dann entpuppte sich meine Tochter auch noch als Schreikind. Ich hatte meinen handwerklichen Beruf aufgegeben, um nur für das Kind da zu sein, aber neun Monate nach der Geburt war ich völlig fertig. Ich konnte mein Kind zu dem Zeitpunkt kaum noch lieben. Da habe ich eine Therapie begonnen.

SPIEGEL ONLINE: Haben Sie es damals schon bereut, Mutter zu sein?

Mutter: Ein Stück weit schon, aber dieses grundsätzliche Bereuen, das ist mir erst seit fünf, sechs Jahren bewusst. Die Erkenntnis war ein Prozess. Nach dem ersten Kind hatte ich das Gefühl: Ich muss es besser machen. Und man dachte ja auch, nur ein Kind, das ist zu wenig. Also habe ich noch zwei weitere Kinder bekommen, die sind heute 13 und 16.

SPIEGEL ONLINE: Ist Ihre Mutter eine gute Mutter?

Tochter: Auf jeden Fall keine schlechte.

SPIEGEL ONLINE: Können Sie verstehen, dass Ihre Mutter es besser fände, Sie nicht zu haben?

Tochter: Ich kann es verstehen, weil sie es mir erklärt hat. Zeitweise habe ich es nicht verstanden.

Mutter: Natürlich kann sie es im Grunde nicht nachvollziehen, sie ist keine Mutter.

SPIEGEL ONLINE: Haben Sie etwas von den Gefühlen Ihrer Mutter geahnt, bevor sie mit Ihnen gesprochen hat?

Tochter: Ich habe schon lange gespürt, dass meine Mutter unzufrieden ist. Wenn sie darüber geschimpft hat, dass sie hier putzen muss und nicht mehr arbeiten kann. Auch die Kleinen haben das gemerkt, wenn die Mama dann doch keine Lust hatte, ein Spiel zu spielen. Aber mit 12,13 hatte ich keine Lust auf Diskussionen. Wenn es in der Küche laut wurde zwischen Mama und Papa, bin ich meist rausgegangen.

SPIEGEL ONLINE: Kränkt Sie die Haltung Ihrer Mutter?

Tochter: Nein, das nicht. Aber ich habe das Thema bisher wahrscheinlich eher verdrängt.

Ihrer Mutter gegenüber sitzt die 19-Jährige auf einer Bank am Küchentisch, die linke Hand an der Stirn, die Beine angewinkelt, als wolle sie sich wappnen. In der ersten Viertelstunde hat sie nur zugehört, sie wirkt schüchtern und denkt mehrere Sekunden nach, bevor sie antwortet.

Sie sagt stets nur wenige Sätze, blickt ihre Mutter an, wie um sich zu vergewissern, nichts Falsches zu sagen. Die junge Frau hat zu Beginn des Gesprächs deutlich gemacht, dass sie im Gegensatz zu ihrer Mutter nicht fotografiert werden will. Sie studiert seit kurzem, will aber weiter zu Hause wohnen.

SPIEGEL ONLINE: Wie haben Sie sich Ihren Kindern offenbart?

Mutter: Ich habe nur mit meiner ältesten Tochter darüber gesprochen, und auch das erst im vorigen Jahr, als Frau Mundlos im Rahmen des Buchprojekts auf mich zukam, unter vier Augen…

Tochter:...so genau weiß ich es gar nicht mehr.

Mutter: Die beiden Kleinen verstehen das noch nicht, die denken vielleicht, ich mag sie nicht, was falsch ist. Der Älteren habe ich gesagt, dass ich dem Anspruch, den mein soziales Umfeld an mich stellt, wie ich als Mutter zu sein habe und wie ich meine Mutterrolle auszufüllen habe, nicht gerecht werden kann. Und in dieser Art und Weise nicht gerecht werden will. Und dass diese Mutterrolle gar nicht meine Sache ist.

SPIEGEL ONLINE: Warum so radikal?

Mutter: Man bekommt ein Kind und ist nur noch Mutter. Das muss dann das Allerwichtigste sein. Nach mir fragt niemand mehr. Mein Mann darf sich über seinen Beruf definieren, ich nicht. Ich bin als Mensch hinter dem Muttersein verschwunden. Irgendwann habe ich gemerkt: Ich bin nicht ausgefüllt, ich brauche auch ein Leben ohne meine Kinder.

SPIEGEL ONLINE: Aber es ist doch längst Alltag, dass Mütter berufstätig sind.

Mutter: Anders als bei einem Vater wird die Berufstätigkeit einer Mutter nur dann akzeptiert, wenn Haushalt und Familie nicht darunter leiden. Es geht aber nicht nur um die Frage nach der Berufstätigkeit, auch wenn sie wichtig ist. Die Mutterrolle, die von mir verlangt wird, empfinde ich als permanente Überforderung. Es gibt Frauen, die gehen total darin auf, wenn sie sich nur mit Kindern befassen. Und es gibt Frauen, die beschäftigen sich gern mal mit Kindern, aber nicht ständig. Zu dieser Gruppe gehöre ich. Das wird aber nicht akzeptiert.

SPIEGEL ONLINE: Wer genau überfordert Sie?

Mutter: Das soziale Umfeld, andere Mütter im Kindergarten zum Beispiel. Wenn da Feste sind und man backt nicht selbst, wird getuschelt. Kindergeburtstage müssen Events sein, die Mutter muss die Karten basteln und eine Show machen. Unsere Kinder sind im Fußballverein, da wird erwartet, dass ich bei jedem Spiel dabei bin. Aber ich mag keinen Fußball und sehe nicht ein, meine Zeit dafür zu opfern.

SPIEGEL ONLINE: Schule, Kindergarten und Sportverein können Mütter doch auch entlasten.

Mutter: Aber das mindert nicht den Druck aus dem sozialen Umfeld. Ich war froh, als die Kinder mit drei Jahren in den Kindergarten kamen. Da hieß es, selbst bei Erzieherinnen: Das arme Kind. Klar plärren die Kinder am Anfang, aber das gibt sich auch. Meine Kinder müssen selbstständig sein. Ich helfe ihnen nicht bei den Hausaufgaben, wenn sie nicht danach fragen. Und sie müssen ihre Fußballschuhe selbst putzen.

SPIEGEL ONLINE: Vermissen Sie manchmal etwas bei Ihrer Mutter?

Tochter: Das fällt mir schwer zu sagen, ich kenne es ja nicht anders. Bei Hausaufgaben hatte ich wenig Probleme. Und wenn ich sie um Hilfe bat, war sie da. Von sich aus hat sie mir aber nicht ihre Hilfe angeboten. Und ich habe auch gern Lego allein gebaut. Als Kind will man ja auch nicht ständig mit seiner Mutter spielen.

SPIEGEL ONLINE: Welche Argumente Ihrer Mutter überzeugen Sie, welche nicht?

Tochter: Mich überzeugt, dass sie als Mutter selber Geld verdienen will. Seit sie vor zwei Jahren wieder begonnen hat, in Teilzeit in ihrem früheren Beruf zu arbeiten, ist die Stimmung auch deutlich besser. Sie ist zufriedener, es gibt seltener Streit. Was mich überhaupt nicht überzeugt, das ist der Satz, dass sie im Rückblick keine Kinder bekommen würde.

SPIEGEL ONLINE: Denken Sie manchmal: Meine Mutter hat mich gar nicht lieb?

Tochter: Natürlich, die Frage habe ich mir schon gestellt. Seit sie mir ihre Sicht erklärt hat, kann ich anders damit umgehen.

SPIEGEL ONLINE: Belastet das Thema Ihr Verhältnis?

Mutter: Nein, wir haben deswegen keinen Streit. Es ist ja auch nicht so, dass ich meine Kinder schlecht behandele. Ich freue mich, wenn es ihnen gut geht. Da ist keine Aversion.

Tochter: Ich denke relativ wenig darüber nach. Es ist einfach so. Ich muss das für mich irgendwie annehmen.

Die Tochter wirkt berührt. Sie geht zum Schrank, nimmt ein Glas und schenkt sich Wasser ein. Dann verlässt sie die Küche und geht ins Bad. Ein leises Schluchzen ist zu hören. Die junge Frau wird nicht wieder auf die Küchenbank zurückkehren.

SPIEGEL ONLINE: Sind Sie egoistisch?

Mutter: Wieso werde ich das gefragt? Man kann genauso sagen, dass die Gesellschaft mit ihren Erwartungen an mich egoistisch ist. Wenn Sie irgendwann das Gefühl haben, Sie hätten den falschen Beruf und Sie gehen daran kaputt, wäre das auch egoistisch?

SPIEGEL ONLINE: Einen Beruf kann man wechseln.

Mutter: Ich sehe, dass ich meine Grenzen erkannt habe. Und ich sehe, dass ich mich außerhalb der Familie verwirklichen muss, um zufrieden zu sein. Neben meinem Teilzeitjob mache ich mich selbstständig, engagiere mich in Vereinen. Wenn Sie wollen, nennen Sie es einen gesunden Egoismus.

SPIEGEL ONLINE: Sieht Ihr Mann das auch so?

Mutter: Er kann mich nicht verstehen. Er sagt immer, ich hätte doch Kinder gewollt. Aber den Druck, den ich verspürt habe, kann er sich nicht vorstellen.

SPIEGEL ONLINE: Haben Sie manchmal Sorge, Ihre Kinder zu verletzen?

Mutter: Ich habe manchmal Schuldgefühle. Aber ich glaube, es ist wichtig, dass ich mit meiner Tochter und später auch mit meinen anderen Kindern darüber spreche. Ich vermittle ihnen damit auch, dass sie eigene Bedürfnisse haben dürfen.

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