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Rentnerin Christina Harberts: Ende eines Arbeitslebens

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Übergang zum Ruhestand Frau Harberts macht sich frei

Christina Harberts arbeitete fast 45 Jahre, dann kam die Rente - und eine Frage, die sich Millionen Deutschen stellt: Was kommt nach Büro, Werkstatt oder Fabrik? Harberts glaubte, die Antwort zu kennen. Doch es zeigte sich: Der Ruhestand kann ziemlich viel Arbeit machen.

Um 10.59 Uhr klickt Christina Harberts auf "Herunterfahren", dann auf "OK". Sie steht auf, verabschiedet sich von ihren drei Bürokollegen, zieht ihre Jacke an und geht durch die Tür des Büros RBO 017, 36 Stufen ins Erdgeschoss hinunter. Der Himmel ist grau, aber Harberts ist sonnig zumute. "Mir geht es jetzt richtig gut", sagt sie auf dem Weg zum Parkplatz, den sie Tausende Male gegangen ist. "Ich freue mich auf das, was kommt."

Was kommt, ist die Rente. Und was an diesem Vormittag um 11 Uhr endet, ist Harberts' Arbeitsleben. Die 62-Jährige - graue Haare, 1,70 Meter groß, gedrungen - hat es in ihren letzten vier Arbeitsstunden abgewickelt. Ein letztes Mal aus der Küche Kaffee geholt, Kollegen umarmt, das persönliche Laufwerk im Firmennetzwerk geleert, eine dauerhafte Abwesenheitsnotiz für ihren E-Mail-Account eingerichtet.

Sie freute sich morgens über die neun Luftballons am Rahmen der Bürotür, ein Ballon für jeden Buchstaben von "Christina". Auf Harberts' Schreibtisch lagen Luftschlangen und Deko-Sternchen, von der Decke und vom Aktenregal hingen bunte Papiergirlanden und noch mehr Ballons. Aus dem mit der Aufschrift "Geschafft" war schon die Luft raus.

Es gab Schnittchen und Kaffee beim Geschäftsführer, zu dem Treffen nahm Harberts sicherheitshalber ein Taschentuch mit, "falls ich weinen muss". Musste sie nicht, das hätte nicht zu ihrer burschikosen Art gepasst. Aber ein wenig zitterte die Unterlippe, als der Chef ihr dankte, Blumen, einen Füller und einen handgeschriebenen Abschiedsbrief überreichte.

"Teilweise wie ein Kopf und ein Arsch"

Das war am 14. März 2012. 44 Jahre und sieben Monate hatte Christina Harberts gearbeitet, die letzten elfeinhalb im Qualitätsmanagement-Team eines großen Windkraftanlagen-Herstellers in Aurich. Dort saß sie am Schreibtisch und sah beim Blick aus dem Fenster die ordentlich aufgereihten riesigen Rotorblätter, jedes mehr als 40 Meter lang. Dort arbeitete sie so eng mit manchen Kollegen zusammen, "dass wir teilweise wie ein Kopf und ein Arsch waren", wie sie sagt.

Vorbei. Nun gehört Harberts zu den gut 20 Millionen Rentnern in Deutschland. Und wie vielen anderen in dieser Gruppe stellte sich auch ihr die Frage, was sie nun anfangen sollte. Sie ist keineswegs banal und nicht gut erforscht, wie Heribert Engstler, Soziologe am Deutschen Zentrum für Altersfragen weiß. "Es gibt einen Honeymoon-Effekt beim Übergang in die freie Zeit, den man genießt", sagt er.

Kurzfristig steige die Lebenszufriedenheit manchmal an, langfristig bleibe sie oft gleich, zumindest gebe es meist keinen Einbruch. Wer im Arbeitsleben unzufrieden war, bleibt es oft auch als Rentner. Es komme kaum vor, "dass man das macht, was man schon immer machen wollte. Die Menschen leben Gewohnheiten". Endlich keine Verpflichtungen mehr und viel Zeit - so einfach ist es offensichtlich nicht. Das zeigen auch Harberts' Erfahrungen.

Christina Harberts, geborene Junack, wurde 1950 in der Nähe von Stade geboren. Bis sie elf war, wohnte ihre Familie - Vater, Mutter, Schwester, Bruder - in Hamburg. Dann ging es nach Frankfurt, wo der Vater eine Stelle bekommen hatte. Im hessischen Sprendlingen begann Harberts 1967 eine Lehre als Stenokontoristin. Damals war Kurt Georg Kiesinger Bundeskanzler, die Beatles veröffentlichten Sgt. Pepper's Lonely Hearts Club Band". Und Harberts bekam 766 Mark Gehalt, brutto.

Sie wechselte mehrfach die Stelle, arbeitete für Elektronikunternehmen und in der Luftfahrtbranche - bis sie im August 1993 in Ostfriesland Dieter Harberts kennenlernte. Am 16. November 1993 heiratete das Paar, Christina Harberts reduzierte ihr Arbeitspensum bei der Lufthansa in Frankfurt, kündigte schließlich ihren gut dotierten Job und zog zum 1. Januar 1995 nach Südbrookmerland im Landkreis Aurich. Es folgten Phasen der Arbeitslosigkeit und wechselnde Arbeitgeber, bis sie im Dezember 2000 bei dem Windkraftanlagen-Hersteller anfing.

Erwartung an Ruhestand: absolutes Glücks- und Freiheitsgefühl

Ehemann Dieter war schon seit 1998 zu Hause, er war herzkrank und bedurfte der Pflege. Harberts wollte weniger arbeiten. "Ich hatte gerade einen Antrag auf Halbtagsarbeit gestellt, da ist mein Mann gestorben." Das war am 6. August 2010, Dieter war 55 Jahre alt. Harberts beließ es bei der Arbeitszeitreduzierung. "Ich habe gedacht, so fange ich schon mal an, an das Leben nach der Arbeit zu denken. An meinem ersten Tag Halbtagsarbeit, das weiß ich noch genau, habe ich mich gefreut."

Irgendwann im Frühjahr 2011 fiel der Entschluss, schon mit 62 statt 65 in Rente zu gehen. "Ich hatte einfach keine Lust mehr", sagt Harberts. Alles war anstrengender als früher. "Ich konnte mir nichts Schöneres vorstellen, als mit dem Arbeiten aufzuhören." Jörg Klüver, ihr letzter Vorgesetzter, sagt, man habe Harberts in den letzten Arbeitswochen angemerkt, "dass sie froh ist, wenn es vorbei ist".

Harberts freute sich auf den Ruhestand, weil sie glaubte, die Frage nach seiner Gestaltung beantwortet zu haben. Schon Monate vor ihrem letzten Arbeitstag saß sie am Küchentisch ihres Hauses und sagte, sie erwarte "ein absolutes Freiheits- und Glücksgefühl". Sie wollte nach dem Lustprinzip leben und sich in der Gemeinde ehrenamtlich engagieren. "Es gibt keinen Zwang, ich bin frei, niemandem verpflichtet."

Harberts wollte Bundesfreiwilligendienst (Bufdi) leisten, um in einem Seniorenservicebüro mitarbeiten zu können. Sie wollte einen "Treff 55 plus" gründen, der Senioren in der Gemeinde für gemeinsame Unternehmungen zusammenführt. Sie wollte reisen, auf die Kanaren, nach Norwegen, nach Kanada. Sie wollte Kurse an der Volkshochschule besuchen. Sie wollte Sport machen, "mit dem Laufen anfangen, die Zeitung nicht mehr geliefert bekommen, sondern vom Kiosk holen, damit ich jeden Morgen rauskomme". Sie wollte ihre Platten digitalisieren.

Anfängliche Euphorie verflog

Und sie wollte Ballast abwerfen. Kistenweise sortierte sie Papier aus: Lufthansa-Schulungsunterlagen von 1982, Gehaltsabrechnung von 1995, Policen längst gekündigter Versicherungen. Der größte Ballast war das Haus. Am 19. März 2012 zog sie aus dem 150-Quadratmeter-Bau in eine komplett neu eingerichtete, senioren- und behindertengerechte 62-Quadratmeter-Wohnung.

Der Umzug, sagt sie, sollte einen Neubeginn symbolisieren. "Ich hatte keine Lust mehr, von morgens bis abends Haus und Garten zu pflegen. Die letzten Jahre waren eine Quälerei." Einen Großteil des Mobiliars verschenkte sie, nahm nur ein Bett mit. "Beim Umzug habe ich Panik gekriegt, dass die Wohnung zu voll wird. Ich habe rigoros gesagt: weg, weg, weg."

Ende März war sie im neuen Zuhause angekommen. Aber im neuen Alltag? Harberts musste lernen, dass es gar nicht so einfach ist, immer zu tun, was man will. Die nach dem letzten Arbeitstag empfundene Euphorie - "mir ging es noch nie so gut wie jetzt" - verflog.

Harberts hatte viel Zeit, stopfte sie aber mit so vielen Aufgaben, Terminen und Verpflichtungen voll, dass von der Ruhe im Ruhestand kaum etwas übrig blieb. Und das empfand sie als schlimm, weil kein Arbeitgeber, kein Vorgesetzter sie dazu gezwungen hatte. Harberts hatte sich selbst ausgetrickst, unter Druck gesetzt, in Stress gebracht. "Im Herbst", sagt sie heute, "hatte ich Land unter. Es ging mir schlecht, ich dachte, das ist doch genauso wie bei der Arbeit."

"Ich machte nichts mehr, was mich ärgert"

Über Jahrzehnte hatte sie immer viel zu tun, arbeitete lange in Vollzeit, war Schöffin, führte in Aurich acht Jahre den Betriebsrat. Die während des Berufslebens eingeschliffenen Verhaltensmuster erwiesen sich als hartnäckig. Die Wäsche etwa hatte sie immer am Wochenende gemacht. Dieses "eigentliche blöde" Muster behielt sie auch im Ruhestand bei, obwohl sie Hausarbeit auf Werktagsvormittage hatte beschränken wollen. Es brauchte einige Monate, bis sich die Erkenntnis durchgesetzt hatte, "dass ich erst mal richtig Pause machen und einfach nur abhängen hätte sollen".

Das holt sie nun nach. Den Bufdi-Vertrag hat sie nach wenigen Monaten gekündigt. Die Zeitung kommt wieder per Abo. Die Platten-Digitalisierung muss warten. Die Reisen sind verschoben, auf die Kanaren will Harberts im Herbst, nach Norwegen 2015, wenn zwei Freundinnen auch Zeit haben. Und Sport? Zum Walken war es zu heiß oder zu kalt oder zu nass, "und ich hab jede Ausrede gern angenommen". Das neu gekaufte Fahrrad steht fast unbenutzt im Schuppen. Die Besuche im Fitnessstudio waren nur eine zeitlang regelmäßig.

Ein paar VHS-Kurse hat Harberts besucht, der "Treff 55 plus" läuft gut an. Es gibt neue Ideen für Seniorenhilfe in Südbrookmerland, aber Harberts geht die Projekte langsamer an. "Die große Lehre ist: Ich machte nichts mehr, was mich ärgert."

Deswegen ist der Kontakt zur früheren Arbeitsstelle auch nur sporadisch. Wenn Harberts über manche ehemalige Kollegen spricht, bekommt ihre Stimme einen sehr energischen Unterton. Dass sie tatsächlich losgelassen hat, scheint in diesen Momenten zweifelhaft. Trotz aller Freiheits- und Erleichterungsbeteuerungen kann sie nicht verhehlen, was ihr die Arbeit bedeutet hat. Besuche an der alten Arbeitsstätte hat sich Harberts verkniffen. "Ich wollte nicht sehen, wie andere auf meinem Arbeitsplatz sitzen und es genauso gut können wie ich."

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