
Unter Jecken: Wäscherprinzessin und Schwarz-gelbe Jonge
Rheinischer Karneval "Et Pläsiersche vun jedem dä nit doof eßß"
"Kommen'se mal her", sagt der Vorsitzende, "jezz können wir mal zwei Minuten reden!"
Das ist fast schon eine Audienz. Helmut Sementschuck ist Vorsitzender der Karnevalsabteilung der Turn- und Sportvereinigung Bonn rrh. 1897/07 e.V., kurz und knackig die "Schwarz-gelbe Jonge" . Damit ist er zwar nur Chef von 37 Mann. Die bringen an diesem Abend aber schon ihre dritte selbst veranstaltete Karnevalssitzung in dieser Session auf die Bühne. Das ist Arbeit.
Der Literat - so nennt man den, der das Programm schreibt, Gäste und Künstler anheuert - hat für heute neun Gastgruppen zusammengebracht. Da steckt jede Menge Organisation drin, da muss das Timing stimmen. Manch Gast muss direkt danach zum nächsten Termin.
Alle treten ohne Honorar auf. Das ist nicht selbstverständlich im rheinischen Karneval. Die Stars treten auch auf den vergleichsweise kleinen Sitzungen wie denen der Jonge auf, aber dafür muss man Geld in die Hand nehmen, und das gilt auch für das Publikum: 33 Euro Eintritt kostet so etwas. Die heutige Sitzung ist aber eine Wohltätigkeitsveranstaltung, die die Schwarz-gelbe Jonge schon zum 59. Mal ausrichten. Freibier inklusive.
Viva Colonia: keine Saisonsache, sondern Grundsatz
Man merkt: Das hier ist weit entfernt vom Kölner Prunk-Karneval. Wenn man Sitzungskarneval im Fernsehen sieht, könnte man glauben, beim Fastelovend ginge es nur um Prominenz und Penunze. Dabei sind es diese kleinen, "geföhligen" Events, die den Karneval im Rheinland prägen.
Karneval ist weder Termin, noch Pflicht oder erstarrte Tradition. "Fastelovend", behauptet die kölsche Wikipedia , "is et Pläsiersche vun jedem dä nit doof eßß" - für jedermann, der nicht dumm ist, ein Vergnügen.
Vor allem aber ist er ein Bedürfnis. Er ist Teil der Alltagskultur. Was die Republik als Karnevalslieder kennt, wird in Wahrheit ganzjährig gesungen. Im Sommer auf Partys und in Kneipen genauso wie Weihnachten, als die Höhner im Kölner Dom auftraten. Es klang wie Fastelovend.
Außerrheinischen kann man das nur schwer erklären. Am besten, man sieht sich das mal an. Zum Beispiel auf der Benefiz-Sitzung im Altenheim Albertus-Magnus in Bonn-Pützchen. Auch das scheint weit entfernt von allem, was man normalerweise mit dem Karneval verbindet. Es ist aber ganz nah dran an der Seele des Fastelovend.
Ein Hobby? Eher ein Lebensinhalt
Schon am späten Nachmittag herrscht gespannte Aufregung unter den Heimbewohnern. Viele haben sich kostümiert, andere holen sich am Eingang zum Sitzungssaal noch ein jeckes Mützchen ab. Letzte Absprachen werden getroffen, Abläufe koordiniert, Schleifen und Scherpen gebunden.
"Kann man dat Kölsch trinken?" fragt ein Schwarz-gelber Jonge seinen bereits bewaffneten Nachbarn. "Isch kann dat nur empfehlen", sagt der. Die Stimmung ist entspannt bis heiter. Mehr als ein paar Bier trinkt hier trotzdem keiner. Braucht man nicht. Und davon ab, sagt Detlef Johannsen, einst selbst Vorsitzender der Jonge, "ist Karneval ja eine ernste Sache".
Der Mann kokettiert mit den Klischees. Zum einen stimmt das zwar, weil hier viele ein Unmaß an Zeit investieren. Viele der Akteure nehmen sich Urlaub, zur Not unbezahlt. Dazu kommt die Sache mit dem Geld: Prinzenpaare und Symbolfiguren wie die Wäscherprinzessin werden heute zwar unterstützt, aber geschätzt "7000 bis 10.000 Euro wird man schon los" als Karnevals-Hoheit, meint einer der altgedienten Jonge.
"Karneval", sagt Ina Harder, seit 1998 stellvertretende Obermöhne der Beueler Wäscherinnen , "ist für mich das ganze Jahr". Sie meint das wörtlich: Direkt nach Aschermittwoch beginnt die Vorbereitung für die nächste Session. Termine, Absprachen, Programme. Und bis spätestens Mai muss schon die nächste Wäscherprinzessin gefunden sein.
Die amtierende heißt Marie-Christine I., ist 22 Jahre jung und Studentin in Bonn. Sie bewarb sich für das Amt und gewann es im Mai 2011. Proklamiert wurde sie am 20. Januar und steht seitdem der Beueler Weiberfastnacht vor, zusammen mit den Obermöhnen, den eigentlichen "Chefinnen" des weiblich dominierten Bonner Karnevals. Das bedeutet Termine satt.
Wie viele denn, will ich wissen. "Rund 180", sagt Ina Harder, "seit Januar."
Das ist ein Vollzeitjob. Harder und die Wäscherprinzessin wirken trotzdem völlig entspannt. Vor der Tür zum Saal stauen sich die Akteure. Es wird geschwatzt und herumgealbert. "Heute ist das hier der fünfte Termin", sagt Marie-Christine I., "aber das ist nicht viel: Morgen haben wir dreizehn."
Die Frage, warum man sich das antut, stößt bei ihr auf echte Verblüffung: "Damit habe ich mir einen Kindheitstraum erfüllt", sagt Marie-Christine. Was denn sonst?
Das Programm beginnt mit dem Einzug des Elferrats. Erster Auftritt: ein Kinderprinzenpaar. Blumen werden verteilt, eine kurze Rede geschwungen, es folgt ein Tänzchen, ein Dankeschön. Tusch, Alaaf, Alaaf, Alaaf. Alte Augen glänzen, einige der Frauen zeigen ihre Rührung mit Tränen, es wird geklatscht. "Kinder", sagt Jürgen "Jo" Engels, Baujahr 1940 und aktiver Jonge seit 1964, "haben die alten Leute immer gern."
Tradition? Ist wandelbar: die macht man ja selbst
Es folgen: Noch ein Kinderprinzenpaar, Gesangsgruppen, Tänzer. Weitere Hoheiten. Raus die einen, rein die nächsten. Keine Atempause, das Programm soll in zwei Stunden über die Bühne. "Haben Sie eigentlich mit der Liküra gesprochen?" fragt Engels. Das scheint wichtig zu sein. Immerhin ist sie Prinzessin von gleich drei Stadtteilen, was man ja schon am Namen merkt: Da stecken Limperich, Küdinghoven und Ramersdorf drin.
Die Liküra, die Bonna, die Godesberga, die Kessenixe, die Wäscherprinzessin: sie alle sind nun Prominente auf Zeit. Berühmt im Stadtteil und zumindest bekannt bis zum Nabel der Welt - Köln. Außer bei den Zugereisten. "Die Mutter Beimer aus der Lindenstraße", erzählt Obermöhne Harder, "hat zur Marie-Christine gesagt, dass sie noch nie von ihr gehört hat." Aber jetzt wolle sie sich schlau machen, hätte die Marie-Luise Marjan versichert.
Für Außenstehende mag im Karneval ja alles gleich aussehen. Tief drinnen aber steckt er voller Traditionen, die sich unterscheiden und mitunter auf Stadtteile und Dörfer beschränken. In Dünstekoven (ca. 590 Einwohner) zwischen Bonn und Köln zum Beispiel ruft man im Straßenkarneval "Helau!", im Rheinland ein Sakrileg. Der Ursprung: Wahrscheinlich der Versuch, einen eigenen Akzent zu setzen, anders zu sein als die umliegenden Dörfer, wo man "Alaaf!" ruft.
Jacke wie Hose? Von wegen! Fastelovend ist ein Fest mit Facetten
So etwas ist nicht selten. Uniformen und traditionelle Kostüme täuschen darüber hinweg, dass es den Karnevalisten ganz und gar nicht darum geht, alles so zu machen wie alle anderen auch. Sie wollen das Besondere, das Eigene, den eigenen Akzent und Charakter.
So viel Tradition im Karneval steckt, so schnell bringt er neue hervor. In Köln gibt es seit 1991 den "alternativ" geprägten Jeisterzoch , der mit nächtlichen Live-Konzerten abschließt. Bereits seit 1984 setzt die Stunksitzung frechere, lebendigere Akzente im Sitzungskarneval. Beide ursprünglich als Gegenveranstaltungen zum konservativ geprägten "offiziellen" Karneval begründet, gehören längst fest dazu. Neue Zeiten, neue Facetten. Was nicht gleich wieder verschwindet, wird eingearbeitet.
Auch die Schwarz-gelbe Jonge haben sich da verdient gemacht. Seit 2011 leisten sie sich eine männliche Bützmarie. So etwas gab es bis dahin nirgendwo, die diesjährige heißt Thomas Strunz. Seine Aufgabe: Orden und Blumen verteilen - und Küsschen. Komme, was da wolle. Männlein, Weiblein, rechts, links, rechts. Und wenn es Spaß macht, auch auf den Mund: die Cheerleader, erzählt er, hat er dieses Jahr schon geküsst, Prinzessinnen, "Funkenmarieschen", alles. Und heute küsst er halt die Omas. Pflicht ist Pflicht. Und macht ja auch Spaß.
Die Neuigkeit kommt gut an. Schon in diesem Jahr leistete sich auch die Liküra so einen Kuss-Beauftragten, den "Mr. Bütz". "Ein Plagiat", grinst Bützmarie Thomas.
Aber auch die Bützmarie der Jonge ist so etwas wie eine Parodie auf die Bützoffiziere der Wäscherprinzessin. Das ist die von den Stadtsoldaten gestellte Leibgarde, sonst aber nur zum Küssen gut. Wenn man ihre Auftritte sieht, könnte man glauben, das sei eine uralte Tradition - der Wäscherinnen-Karneval in Beuel existiert immerhin seit 1824. Die Bützoffiziere aber gibt es auch erst seit 1989, die Wäscheprinzessin seit 1958. Alles ist eben im Fluss, verändert sich langsam, aber ständig. Das macht den Unterschied aus zwischen gepflegten und gelebten Traditionen.
Nach der Sitzung schiebt sich ein alter Mann mit seinem Rollstuhl durch die Menge im Vorraum. Schön sei das gewesen, sagt er. 82 Jahre alt ist er, hat einen schweren Schlaganfall überlebt. "Bei der Sitzung hier", erzählt er, "war ich jetzt zum zweiten Mal dabei. Die machen das richtig gut."
Früher, sagt er, da habe er selbst ja richtig mitgemacht im Karneval. Und dann sagt er mit Stolz und glänzenden Augen: "Ich hab früher die Uniformen geschneidert für die Stadtsoldaten."
Heute müsse der Karneval zu ihm kommen. Wichtig, sagt er, sei ihm das. Sehr wichtig.