Roma in Berlin "Seit ich zwei Jahre alt bin, lebe ich im Auto"

Tausende Armutsflüchtlinge aus Osteuropa kommen jährlich nach Berlin, viele sind Roma. Oft leben sie in Autos, erleben Fremdenfeindlichkeit, werden beschimpft und bespuckt. Doch sie haben gute Gründe hierzubleiben - wie das Beispiel von Marietta und ihrer Familie zeigt.
Von Lena Reich

Das erste Treffen mit Marietta: Sie hat sich in den Kofferraum gesetzt, ihr schreiendes Kind im Arm, die Heckklappe ist weit geöffnet. Marietta wohnt seit April in dem Renault, er steht vor der Stephanus-Kirche in Berlin-Wedding. Marietta ist 25 Jahre alt, ihr Kind zehn Tage. Es kam in der Virchow-Klinik zur Welt. Marietta trug es im Bauch, als sie sich auf die Reise machte von Rumänien nach Deutschland.

Marietta könnte Hilfe brauchen. Die Roma-Frau hat bereits zwei Kinder, vier und sechs Jahre alt, doch nun will das Stillen nicht gelingen, ihre Brust ist entzündet und geschwollen. Sie könnte den Sozialmedizinischen Dienst in Anspruch nehmen, aber sie hat Angst, man könnte ihr das Baby wegnehmen.

Mariettas Familie gehört zu den Tausenden Menschen, die aus dem Osten Europas nach Deutschland kommen, getrieben von der Hoffnung auf ein besseres Leben. Wanderarbeiter werden Menschen wie Marietta oft genannt, dabei trifft der Begriff nicht zu: Sie sind Armutsflüchtlinge, gekommen, um in Deutschland zu bleiben.

"Seit ich zwei Jahre alt bin, lebe ich im Auto"

Rund 8000 Rumänen und 14.000 Bulgaren leben derzeit in Berlin, davon kamen allein im letzten Jahr rund 1800 Rumänen und 3000 Bulgaren hinzu. Die meisten leben in Wohnungen. Doch viele hausen in Autos, zelten in Parks oder sind irgendwo untergekommen: Bei Verwandten oder Bekannten, in Notunterkünften. Dutzende Familien werden vor allem in Neukölln in Kellern und auf Dachböden vermutet.

Marietta kennt kein anderes Leben als das in Armut. "Seit ich zwei Jahre alt bin, lebe ich im Auto." Und so hatte sie nichts zu verlieren, als sie sich mit ihren Eltern, ihrem Mann und ihren Kindern im April von Bukarest nach Deutschland aufmachte.

Ihr Mann hat Arbeit bekommen, nachts ist er meist unterwegs, er arbeitet für ein Abrissunternehmen für vier Euro die Stunde. Marietta hat vor der Geburt in Mitte Geld gesammelt. Ein geregeltes Einkommen ist das nicht. Doch sie haben beide mehr Glück als ihre "Kollegen", wie sie die anderen aus der Autoreihe nennt: In wenigen Tagen werden sie ihre eigene Wohnung beziehen.

Berlin reagierte mit Aktionsplan

Für Menschen wie Marietta und deren Familie hat der Berliner Senat im Juli den "Aktionsplan zur Einbeziehung ausländischer Roma" verabschiedet. Es soll die Situation der Menschen verbessern: Besserer Zugang zu Bildung, zur Gesundheitsversorgung, zum Arbeitsmarkt. Wie und ob Berlin die hehren Ziele finanzieren kann, ist allerdings noch offen.

Ein Teil des Plans: Schwangeren soll über einen Notfallfonds eine medizinische Behandlung und die Geburt finanziert werden, wenn sie selbst mittellos sind. Mariettas rumänische Versicherung weigerte sich, die Kosten für die Geburt zu übernehmen, Marietta zahlte der Virchow-Klinik 2000 Euro. Einen kleinen Teil hatte sie gespart, das meiste bekam sie geliehen von einem Mann, der sich als Chef der Roma-Gruppe versteht. Wie er an das Geld kam, ist nicht klar. "Es gibt auch Rumänen, die Geld haben. Aber die sieht man nicht auf der Straße", so der Chef. Er war es auch, der auf die Wohnung aufmerksam gemacht hat. Er spricht Deutsch und hat die Kaution von 1000 Euro bezahlt, die sie in Raten abzahlen werden.

Die Familien kommen zu einer Zeit, in der steigende Mieten dafür sorgen, dass günstiger Wohnraum knapp und Notunterkünfte immer voller werden. Die Flucht vor der Armut endet für Menschen wie Marietta in der Armut, ohne Perspektive, so scheint es.

Diskriminierung von Roma-Kindern

Doch Marietta ist entschlossen. Schon allein wegen der Kinder wolle sie nicht mehr zurück nach Rumänien. "Hier haben sie nicht so viele Sorgen." Nach Schätzungen von Unicef besuchen in Rumänien 300.000 bis 400.000 Roma-Kinder keine Schule. Die anderen leiden oft unter der Diskriminierung von Lehrern, Schulen mit einem hohen Roma-Anteil unter der Schülerschaft sind laut Unicef oft schlecht ausgestattet. Der Amnesty-Bericht 2013 kritisiert zudem, dass Roma-Kinder in Behindertenschulen untergebracht werden.

Während Marietta keinen Anspruch auf einen Kindergartenplatz für ihre beiden jüngsten Kinder hat, ist die sechsjährige Tochter Mitte September eingeschult worden.

Mariettas Nichte Alessandra, 13 Jahre alt, besucht bereits die sechste Klasse der Grundschule im Kiez. Als sie vor fünf Jahren aus Bukarest nach Berlin kam, sprach sie kein Wort Deutsch. Mit vorwiegend Türkisch sprechenden Kindern lernte sie die Sprache in einem schulischen Förderprogramm. Auch hier setzt der Berliner "Aktionsplan" an: Für die kommenden zwei Jahre will der Senat zusätzlich "Lerngruppen für Neuzugänge ohne Deutschkenntnisse" für die 1. und 2. Klasse in Schulen schaffen.

"Weil sie eine Rumänin ist"

Alessandras Weg zeigt, wie nützlich das sein kann: Heute spricht sie fließend Deutsch. Doch ihr Beispiel zeigt auch, wie schwer es Menschen wie ihr gemacht wird.

Sie, ihre Schwester und ihre Eltern lebten ebenfalls im Auto, zwei Jahre lang, bis 2011. Dann fanden sie eine Dreizimmerwohnung, doch die Nebenkosten stiegen, sie konnten sie sich nicht mehr leisten und landeten wieder in einem Auto.

Alessandra wirkt erschöpft. Von der Nasskälte ist das Gesicht aufgequollen. Ihre Glieder schmerzen. Die Lehrerin mache sich immer wieder vor der Klasse lustig über ihre wohnliche Situation. Alessandra erzählt von einem Zehnjährigen, der mitansehen musste, wie seine Mutter von einem Passanten ins Gesicht geschlagen wurde. Warum? "Weil sie eine Rumänin ist."

Marietta selbst erzählt von Anwohnern, die immer wieder böse guckten und sie mit "deutschen Wörtern" anherrschten, die sie nicht verstehe. Jugendliche hätten sie gar schon bespuckt.

"Wir müssen diese Familien erreichen"

Antiziganismus ist weitverbreitet. In einer Langzeituntersuchung gaben vor zwei Jahren gut 40 Prozent der Befragten an, dass sie ein Problem damit hätten, wenn sich Sinti und Roma in ihrer Gegend aufhielten. Über ein Viertel der Teilnehmer vertrat die Ansicht, dass Sinti und Roma "aus den Innenstädten verbannt werden" sollten.

Michael Kraft vom Verein "südost Europa Kultur e.V." beklagt, dass die Integration von Armutsflüchtlingen im Wahlkampf kein Thema der Parteien der politischen Mitte gewesen sei. Der Verein kümmert sich um Flüchtlinge, Roma und Wanderarbeiter. Wo immer Familien angetroffen werden, versuchen die Mitarbeiter des Vereins, mit ihnen ins Gespräch zu kommen, auf der Straße oder in ihren Wohnungen. Sie bieten gesellschaftliche Orientierungshilfe und juristische Erstberatungen an, begleiten die Leute zu den Ämtern.

Gelegentlich stoßen Kraft und seine Leute auf Ablehnung. "Es kann Jahre dauern, bis Familien uns vertrauen und unsere Hilfe annehmen", sagt ein Mitarbeiter. "Aber wir wollen und müssen diese Familien erreichen, die oft traumatische Kriegs- oder Fluchterfahrungen gemacht haben. Das lässt sich nur gemeinsam bearbeiten." Welchen Ressentiments diese Menschen hier ausgesetzt sind, weiß Kraft nur zu gut. "Ich habe die Befürchtung, dass unsere Gesellschaft nicht die Bereitschaft und Offenheit besitzt, sich mit dem Thema Einwanderung und deren unterschiedlichen Erscheinungsformen angemessen auseinandersetzen zu wollen."

Das zweite Treffen mit Marietta: Ein Abend in der neuen Wohnung, die Sonne ist bereits untergegangen. An den Wänden fehlt die Tapete, die Fenster sind undicht. Die Miete wird vom Jobcenter übernommen. Marietta legt ihr schlafendes Baby in ein Reisebettchen. Die Geschwister liegen auf der ausgezogenen Couch daneben. Viel Platz gibt es hier nicht, die siebenköpfige Familie wohnt in zwei Zimmern. Vor den Fenstern hängen dicke Wolldecken. Marietta strahlt zufrieden. Dennoch, es bleibt die Angst: Sollte das Haus im nächsten Jahr saniert werden, würde die Miete erhöht und somit die staatliche Unterstützung nicht mehr ausreichen. Dann finge die Suche wieder von vorne an.

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