Häusliche Gewalt in Russland Das bisschen Prügel

Protest vor der Duma gegen mildere Strafen für häusliche Gewalt
Foto: imago/ ITAR-TASSNatalja Tunikowa ringt nach Luft. Dimitrij hat mit beiden Händen ihren Hals gepackt, drückt zu. Sie zappelt, röchelt. Plötzlich lässt er los. Sie holt Luft, dann prallen Fäuste auf ihren Kopf ein.
Es ist der 19. August 2012, als Dimitrij das erste Mal Natalja Tunikowa schlägt. Lange versucht sie, dieses Datum zu verdrängen. "Ich habe mich lange geschämt." Sie schweigt, erzählt weder ihrer Tochter noch ihren Eltern von den Gewaltanfällen ihres Partners und allen, die folgen werden, in immer kürzeren Abständen.

Natalja Tunikowa
Foto: SPIEGEL ONLINEHeute ist Tunikowa eine der wenigen Frauen in Russland, die über Gewalt in der Familie sprechen. Sie hat sich Hilfe geholt, von Psychologen und Anwälten. Eine energische Frau, 44 Jahre, feste Stimme. Sie gibt den Opfern ein Gesicht.
Es sind viele in Russland. Zwar ist die Datenlage schwierig, aber nimmt man allein die Statistiken des Innenministeriums, geschehen etwa 40 Prozent der Körperverletzungen zu Hause. Seit Jahren setzen sich Frauenrechtlerinnen für ein eigenes Gesetz gegen häusliche Gewalt ein, wie es in Deutschland und 142 anderen Ländern der Welt existiert. Regionale Studien lassen den Schluss zu, sagen Experten, dass jedes Jahr 600.000 Frauen geschlagen werden. Doch nur wenige Frauen zeigen ihre Männer an - aus Misstrauen den Behörden gegenüber, aus Angst, bloßgestellt zu werden oder alleine dazustehen.
Tunikowa muss nun zusehen, wie der Staat ihr und all den anderen Betroffenen noch weniger Rechte zubilligt. In nur sieben Monaten haben Duma und Föderationsrat den Gesetzentwurf 26265-7 durchgewunken. Die Unterschrift des Präsidenten Wladimir Putin gilt als Formsache.
Der Gesetzentwurf sieht vor, dass die Strafen bei häuslicher Gewalt gelockert werden - Entkriminalisierung von häuslicher Gewalt nennt sich das. Wer in Russland seine Frau, Kinder oder Angehörige verprügelt, der wird nicht mehr mit Haft von bis zu zwei Jahren bestraft. Den Tätern drohen nur noch eine Geldstrafe von bis zu 30.000 Rubel (rund 460 Euro) oder Freiheitsentzug bis zu 15 Tage. Prügel wird also zu einer Ordnungswidrigkeit heruntergestuft.

Duma
Foto: Alexander Zemlianichenko/ APDas Strafgesetzbuch wird nur dann angewendet, wenn der Täter mehr als einmal im Jahr zuschlägt, bei den Opfern Blutergüsse sichtbar sind oder deren Knochen brechen.
"Wenn er dich schlägt, liebt er dich"
"Einfach unfassbar" nennt Tunikowa den Gesetzentwurf. Dass es gerade Frauen waren, die den Gesetzentwurf initiiert haben, kann sie nicht verstehen.
Die konservative Duma-Abgeordnete Jelena Misulina ist eine der Initiatoren. Sie gehört zu den Verteidigerinnen der traditionellen, russischen Werte, die Gewalt als adäquates Mittel der Erziehung einschließen. "Wenn er dich schlägt, liebt er dich" - besagt ein Sprichwort, es zeigt das widersprüchliche Verhältnis.

Duma-Abgeordnete Jelena Misulina
Foto: DPA/ SputnikMisulina sagt, sie wolle die Familie vor Eingriffen des Staats schützen: "Wir wollen nicht, dass man zwei Jahre im Gefängnis sitzt, nur weil es einmal einen Klaps gegeben hat." Eine solche Haftstrafe verschlechtere nur das Klima in der Familie. Die russisch-orthodoxe Kirche unterstützt den Gesetzentwurf. Größere Proteste gab es nicht, sie wurden von den Behörden untersagt.
Anwältin Mari Dawtjan, die für Frauenorganisationen tätig ist, nennt die Argumente der Befürworter "Quatsch". Durch die Entkriminalisierung werde Gewalt in der Familie zu einer Privatsache. "Damit wir vorbeugen können, müssen wir Gewalttäter auch für blaue Flecken bestrafen."
"Wenn man Sie umbringt, kommen wir natürlich"
Die Juristin spricht von einem großen Rückschritt. In der Tat hat die russische Legislative einen recht bemerkenswerten Sinneswandel vollzogen. Warum, ist schwer einzuschätzen. Ob es daran lag, dass Putin geäußert hatte, er sei gegen die "rücksichtlose Einmischung in die Familien"?

Mari Dawtjan
Foto: SPIEGEL ONLINENoch vor sieben Monaten wurde nach einem Beschluss des Verfassungsgerichts das Strafrecht reformiert, viele Straftaten wurden zu einer Ordnungswidrigkeit herabgestuft - ausgenommen: "Gewalt in der engeren Familie". Die Duma verabschiedete die Reform mit ebenso großer Mehrheit. Damit wurden der Polizei die Ermittlungen übertragen.
Nun aber müssen die Opfer wieder alleine Beweise vorlegen oder ausharren, "bis ihnen schwere Gewalt widerfährt, der Schädel bricht", wie es Dawtjan ausdrückt.
Nach Uno-Angaben sterben jedes Jahr rund 14.000 russische Frauen durch Gewalt ihrer Nächsten. Zum Vergleich: In den USA sind es jährlich über 940 Frauen, dort leben aber mehr als doppelt so viele Menschen wie in Russland.
Im November sorgt der Fall einer jungen Frau aus der russischen Region Orjol für Aufsehen. Sie rief die Polizei, weil ihr Partner sie attackierte. Doch sie musste sich anhören: "Wenn man Sie umbringt, kommen wir natürlich und nehmen Ihre Leiche zu Protokoll, keine Sorge!" Wenig später starb die Frau. Die Aufzeichnung des Anrufs fand später seinen Weg in die Öffentlichkeit.
Zwei Gerichtsverfahren
Tunikowa kennt solche Fälle. Nach zwei Jahren Schlägen wehrt sie sich nun. Sie glaubt, ihr Ex-Partner Dimitrij habe sie damals am 10. August 2014 umbringen wollen. Wieder einmal habe er auf sie eingeschlagen, sie an den Haaren in die Küche gezerrt, Richtung offener Balkontür. Die Wohnung liegt im 15. Stock.
"Ich hatte Panik, habe mit den Händen nach Gegenständen getastet, fand ein Küchenmesser", erzählt sie, Tränen in den Augen. Sie habe es ihm in den Oberkörper gerammt. "Ich habe ihn an der Lunge verletzt." Polizei und Sanitäter kamen, kümmerten sich nur um ihn. Ihre Verletzungen ließ sie selbst im Krankenhaus dokumentieren: Gehirnerschütterung, Blutergüsse im Gesicht, an Armen und Hüfte, Prellungen.
Sie brachte Dimitrij vor Gericht, das Verfahren zog sich, schließlich wurde es eingestellt. Tunikowa hat Klage beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte eingereicht.
Dimitrij streitet die Vorwürfe ab. Er hat seine Ex-Partnerin verklagt - wegen gefährlicher Körperverletzung. Der Prozess beginnt bald. Tunikowa drohen bis zu zehn Jahre Haft.