Aufschrei-Debatte auf Twitter Der ganz alltägliche Sexismus

Blöde Sprüche, Hände auf Oberschenkeln, herablassende Titulierungen: Wir leben im Jahr 2013 - und in deutschen Büros werden Frauen "Puppe" genannt und angemacht. Das darf nicht wahr sein? Ist es aber, wie Beispiele der aktuellen Sexismus-Debatte zeigen.
Von Barbara Hans und Simone Utler
"Aufschrei"-Debatte: Beispiele aus dem deutschen Alltag

"Aufschrei"-Debatte: Beispiele aus dem deutschen Alltag

Hamburg - Die Einträge fließen schneller ein, als man sie lesen kann. Minütlich kommen Dutzende neue Tweets hinzu. Nach den Sexismus-Vorwürfen einer jungen "Stern"-Journalistin gegen Rainer Brüderle schildern unter dem Hashtag #Aufschrei  Tausende Menschen auf Twitter ihre Erfahrungen. Es sind Erfahrungen mit sexuellen Belästigungen, verbalen Entgleisungen, vermeintlich humorigen Zweideutigkeiten, unverhohlenen Machtdemonstrationen. Bis Freitagnachmittag waren laut dem Suchtool Topsy 7000 Einträge registriert.

Man könnte meinen, das Thema Sexismus sei spätestens seit den sechziger Jahren, seit dem Feldzug der Frauenbewegung, keines mehr. Doch die Tweets und Dutzende Leserbriefe zeigen: Es gibt noch immer Chefs, die glauben, Puppe, Püppchen, Maus oder Hase sei der Name der Mitarbeiterin. Die Vielzahl der Beispiele zeigt auch: Grenzüberschreitungen sind noch immer so alltäglich, dass es die aktuelle Debatte brauchte, um sie zum Thema zu machen. Der Alltag von Frauen in Deutschland ist auch 2013 voll von Sexismus, in der U-Bahn, in der Schule, an der Uni und im Büro.

w-lana del rey (@damemithermelin) berichtet von einem Fall, in dem ein Professor zu einer Freundin in der Prüfung sagte: "Malen Sie mir mal einen Herd an die Tafel. Da gehen Sie besser wieder dran."

Noise (@noiseburst1) berichtet von einem Lehrer, "der in der Mathe-Abiklasse immer sagte, 'Ach, die Mädchen… Ihr braucht das ja sowieso mal nicht.'"

Tobias H. Witte (@thw85) twittert über einen Fall in einem deutschen Gerichtssaal: "Amtsgericht. Vorsitz hatte eine Richterin. Anwalt der Klägerin jovial: 'Putzen ist doch Frauensache!'"

Ein Chef eines Handwerksbetriebs nennt seine Mitarbeiterin nur "Urgewalt", weil sie von so großer Statur ist.

Sexismus gibt es dort, wo es Macht gibt: Es braucht ein Machtgefälle, um Grenzen ungescholten überschreiten zu können. Und: Sexismus verfestigt dieses Gefälle. Wer den blöden Spruch reißt, hat die Macht; wer sich qua Position nicht wehren kann, ohne Konsequenzen fürchten zu müssen, hat sie nicht.

Potenzprahlerei und Vergewaltigungswitze

Silke Boberg (@textmagd) hatte als Studentin einen Chef, "der auf dem Seminar-WE offensiv seine Bettqualitäten" angepriesen habe. schwarzblond (@schwarzblond) kann mit einem Chef aufwarten, "der Vergewaltigungswitze total lustig findet". Abspann (@abspann) twittert von einem leitenden Angestellten, "der täglich an der Kaffeebar seine 'Latte' bestellt und dabei nie ohne 'flotte' Bemerkung auskommt".

Ist doch lustig? Geht so. Potenzprahlerei mag unter pubertierenden Jungs angemessen sein, am Arbeitsplatz ist sie es nicht. Die aktuelle Debatte zeigt, was Deutschland 2013 braucht: eine Verständigung darüber, wo die Grenzen liegen und wann sie überschritten werden. Was als charmantes Kompliment durchgeht und was als sexuelle Belästigung. Denn die ist inakzeptabel - und nicht verhandelbar.

Angestoßen wurde die Aufschrei-Diskussion  von zwei Nutzerinnen. Am Donnerstagabend hatte Nicole von Horst, die sich bei Twitter Fröken von horst (@vonhorst)  nennt, mehrere persönliche Erfahrungen getwittert. In der Nacht schlug Anne Wizorek (@marthadear),  nach eigenen Angaben "Nerdette mit Wohnsitz Internet und Berlin" und freie Beraterin für digitale Strategien und Online-Kommunikation, den Hashtag #Aufschrei vor.

Bemerkenswert ist, dass viele Schreiberinnen anonym bleiben wollen: Sie fürchten Repressionen. Von Chefs, die sich für locker und jovial halten, es aber nicht sind. Von einer Netzgemeinde, die meint, Frauen, die sich über Sexismus beschwerten, seien verklemmt, verstünden weder Spaß noch Nettigkeiten. Ein Chef titulierte diese Frauen, denen er die nötige Gelassenheit absprach, gar als "Trockenfotzen". Ist auch lustig? Sicher nicht.

Magdalena Miedl (@mmiedl) gibt zu, dass "ich hemmungen habe, sexismen zu benennen, weil ich nicht als humorlos gelten will". "Stell Dich nicht so an" ist ein Satz, der in der Debatte häufig fällt. Mehrere Userinnen berichten, ihnen sei dieser Rat gegeben worden - teilweise sogar von anderen Frauen - und gern mit der Ergänzung, das Gesagte "als Kompliment zu verstehen".

Frauen müssen sich für Sexismus-Vorwurf rechtfertigen

Die Sexismus-Debatte verkehrt, wer sich für was rechtfertigen muss - und wer sich für was schämen sollte. Wer "unter die Gürtellinie" langt, wie es Wolfgang Kubicki im Zusammenhang mit der Brüderle-Debatte doppeldeutig formulierte. Rechtfertigen müssen sich häufig genug die Frauen, die einen Sexismus-Vorwurf erheben: weil sie keinen Spaß verstehen; weil sie prüde sind; weil sie überhaupt dankbar sein können, wenn ihnen mal ein Mann Aufmerksamkeit schenkt; weil sie angeblich nur neidisch sind; weil sie nur ihre allgemeine Unzufriedenheit zum Ausdruck bringen; weil sie "Kampf-Emanzen" sind. Nicht die Männer, die übergriffig sind. Das ist perfide. Denn noch immer sind es in diesem Land zu einem überwiegenden Teil Männer, die entscheiden: wer eingestellt wird und zu welchen Konditionen. Welche Richtung Unternehmen einschlagen. Was lustig zu finden ist und was nicht.

Noch immer wird den Tätern mehr Verständnis entgegengebracht als den Opfern. Zum Beispiel dem Nachbarn, "der jeder Frau und jedem Mädchen an den Hintern fasst, was wir zu akzeptieren haben, 'weil er nun mal so ist'", berichtet Shiku (@_shiku_). Bettina Junglas (@Bettina_243) erlebte "anzügliche witze im job. teilweise total unter der gürtellinie. und die männerrunde lacht laut". Welch bizarre Auswirkungen das wiederum im Alltag hat, verdeutlicht der Tweet von Teresa (@colazioneAroma), die schreibt, Sexismus gebe es, "weil es männer gibt, die einen bitten eine hose zu tragen, da sie meinen, dass sie sich bei einem rock nicht beherrschen können".

Vordergründig geht es um dumme Sprüche, in Wahrheit geht es um Macht

Die schiere Masse der Beiträge zeigt , dass die Diskussion längst überfällig ist. Elke (@Privatiesse) äußert Erleichterung, endlich zu wissen, "dass man nicht die Einzige ist, die sich von alltäglichem Sexismus erniedrigt fühlt". Manon Priebe (@ManonPriebe) schreibt: "Jeder - vor allem Medienvertreter -, der denkt, die Debatte um Brüderle etc sei überholt und aufgebauscht, sollte #Aufschrei mitverfolgen."

Auch zahlreiche Männer unterstützen die Aktion. "Einfach nur beklemmend.. ich schäme mich da schon als Mann..", twittert Mathias Täge (@MTaege). Und Markus Tacker (@markustacker) schreibt: "#aufschrei finde ich ganz schön verstörend. Ich frage mich echt, ob ich nicht auch manchmal unbewusst so mit Frauen umgehe." Doch selbst bei den Männern gibt es Sorge, sich in der Diskussion zu bekennen. "Mich als Mann nur zu trauen über diesen Fake-Account zuzugeben, dass ich die Aktion #aufschrei gut finde!", bedeutet für Louis Schneider (@Louischneid) Sexismus.

Die Debatte steht erst am Anfang, sie muss weitergehen. "Lasst uns über Machtstrukturen reden", twittert Maurizio Cavaliere (@macava) und bringt es auf den Punkt.

Mitarbeit Vera Kämper
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